Weiskerns Nachlass
Innenstadt.«
Sebastian Hollert steht auf, zieht einen Brief aus der Jackentasche und legt ihn vor Stolzenburg auf den Tisch.
»Sie wollen, dass ich Ihrem Vater etwas über Ihre Studienleistungen erzähle? Was erwarten Sie von mir? Elogen?«
»Sie können mich nicht leiden, ich weiß.«
Stolzenburg schüttelt den Kopf und öffnet das Kuvert, er zieht eine schmucklose, handgeschriebene Einladung für den nächsten Abend heraus. Der Empfang findet in der Schwägrichenstraße statt, im Musikerviertel, und man erwarte Stolzenburg ab einundzwanzig Uhr.
»Das ist nicht das Problem, Hollert«, sagt er, »leiden oder nicht leiden, darum handelt es sich nicht. Sie tun einfach zu wenig für das Studium. Genauer gesagt: Sie tun gar nichts. Ich habe den Eindruck, dieses Studium ist Ihnen völlig gleichgültig. Und ich weiß überhaupt nicht, wieso Sie sich an unserem Institut haben immatrikulieren lassen. Warum studieren Sie nicht Volkswirtschaft? Sie werden doch eines Tages die Firma vom Herrn Papa übernehmen, wozu brauchen Sie da Kultur und Kunst? Wieso wollen Sie etwas über Konfuzius und Shakespeare erfahren, ganz abgesehen davon, dass ich nicht den Eindruck von Wissbegier bei Ihnen habe? Warum sitzen Sie in meinen Seminaren, wenn auf Sie ein Erbe von zig Millionen wartet?«
Hollert verzieht schmerzlich das Gesicht: »Nein, da täuschen Sie sich. Leider.«
»Ach, sind es nur ein oder zwei Millionen?«
»Das weiß ich nicht, und das kann man nicht sagen, das kann keiner sagen. Vater hat eine Firma, eine große Firma, und das ist wie ein lebender Organismus, da gibt es ein ständiges Auf und Ab. Triumph und Niederlage liegen dicht beieinander.«
»Wie auch immer, jedenfalls haben Sie da keine finanziellen Probleme und brauchen dieses Studium nicht.«
»Herr Doktor Stolzenburg, darf ich es Ihnen kurz erläutern, damit Sie sich keine falschen Vorstellungen machen? Ihre Vermutung könnte vom Buchwert her zutreffend sein, aber der Bilanzwertansatz kann etwas ganz anderes ergeben. Es gibt den sogenannten Teilwert und den Substanzwert, und die sind entscheidend, da kann ein Unternehmen buchstäblich über Nacht ins Bodenlose fallen. Wenn Sie ein Unternehmen beurteilen wollen, benötigen Sie dafür zuallererst den Substanzwert, das ist die primäre Zahl, die Sie brauchen. Alles andere macht keinen Sinn.«
»Bitte, versuchen Sie zumindest, deutsch zu reden, Hollert.«
»Bitte?«
»Sie sollen deutsch mit mir reden. Oder geht das nicht?«
»Herr Doktor Stolzenburg, Teilwert und Substanzwert, das sind die korrekten deutschen Begriffe.«
»Davon rede ich nicht. Sie sagten eben, es macht keinen Sinn. Das ist kein Deutsch, das ist Unsinn. Etwas kann Sinn haben oder einen Sinn ergeben, es kann sinnvoll sein, aber Sinn machen kann es nicht, nicht im Deutschen. Das ist dummes Zeug und schlecht übersetztes Englisch. Verstehen Sie, Hollert, it makes no sense. Ich hoffte, das zumindest hätte ich Ihnen beigebracht.«
»Ich verstehe, verzeihen Sie. Sie erinnern mich an Onkel Friedl. Er wurde einmal wütend, als ich sagte, ich an seiner Stelle würde einen bestimmten Techniker feuern. Er wurde wütend, nicht weil ich den Kerl feuern wollte, sondern weil ich dieses Wort gebrauchte: feuern. Er erklärte mir, das sei kein Deutsch, mit einem Feuer habe das nichts zu. Das weiß kein Mensch mehr, jeder gebraucht es, es ist üblich, und keiner denkt dabei mehr an fire. Ich weiß nicht, aber so reden die Menschen, Herr Doktor Stolzenburg.«
»Na, wie auch immer. Wenn ich richtig unterrichtet bin, stellt die Firma Ihres Vaters Batterien her. Eines Tages werden Sie dieses Unternehmen übernehmen und leiten. Wäre Betriebswirtschaftslehre nicht angebrachter für Sie? Oder Physik?«
»Physik habe ich drei Jahre lang studiert.«
»Und abgebrochen, weil es Sie auch nicht ansprach?«
»Nein, ich war damit fertig. Ich hatte gelernt, was ich benötigte. Ich brauchte die Kenntnisse, nicht das Diplom, ich brach das Studium ab, als ich hatte, was ich wollte. Ich wollte keine Zeit vergeuden wegen eines fürmich überflüssigen Zettels. Und Betriebswirtschaftslehre studiere ich derzeit.«
»Was, bitte, heißt: derzeit? Wollen Sie mir damit sagen, dass Sie noch nebenher, so ganz nebenbei, ein zweites Studium betreiben?«
»Ja. Oder ich sollte besser sagen: Wirtschaftslehre ist mein Hauptfach, und bei Ihnen studiere ich ›so ganz nebenbei‹.«
»Das ist aber kaum möglich. Sie können nicht gleichzeitig zwei komplette und völlig verschiedene
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