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Weiskerns Nachlass

Weiskerns Nachlass

Titel: Weiskerns Nachlass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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antichambriere, um unseren Arsch zu retten. Und ich werde langsam müde. Ich kann diesen Laden auch verlassen und den Ruf nach Koblenz annehmen. Campus Koblenz, Fachbereich zwei, das Institut für Kulturwissenschaft dort ist mir wie auf den Leib geschneidert, und ich glaube mittlerweile, beide Universitäten wären glücklich, wenn ich wechsle, Leipzig und Koblenz wären erleichtert. Wenn ich gehe, wird Leipzig unser Institut in Jahresfrist schließen, so sieht es aus, Rüdiger. Und jetzt sag du mir noch einmal, ich würde einfach eine Konferenz streichen. Ich habe es satt, den Esel zu spielen, der sich von allen prügeln lässt. Vom Rektorat höre ich, wir sind eine Belastung, und von euch höre ich nichts als Beschimpfungen. Und Koblenz hat inzwischen aufgestockt, will mir eine weitere Assistenzprofessur einrichten, wenn ich den Ruf annehme. Und eine solche Chance bekomme ich nicht ein zweites Mal. Wieso ich immer noch das Lamentieren vom Rektorat und euch anhöre, weiß ich selbst nicht. Ich kann sofort gehen und wäre vermutlich glücklicher.«
    Demonstrativ nimmt Schlösser ein Papier hoch, für ihn ist das Gespräch zu Ende. Stolzenburg hat das Gefühl, zu unbeherrscht aufgetreten zu sein und den Rüffel zurecht erhalten zu haben, andererseits hat er die neue Sprachkonferenz in den vergangenen Monaten genauestens vorbereitet, jede Woche dafür zusätzlich gearbeitet, einen umfänglichen Briefwechsel geführt, um ein attraktives Programm anbieten zu können, und er war zweimal nach Wrocław gefahren, um mit den Kollegen die Tagungsräume, das Hotel und die Ausflugsziele festzulegen. Im Januar sollten die Einladungen verschickt werden, stattdessen wird er nun allen Partnern und Referenten einen Brief schreiben dürfen, indem er um Verständnis für die Absage bittet.
    »Und? Wirst du gehen? Nimmst du Koblenz an?«, fragt er und spürt zu seiner Überraschung, dass seine Stimme besorgt klingt.
    Schlösser schaut kurz auf: »Was meinst du? Sollte ich?«
    »Ich würde es verstehen. Und hier wird man uns abwickeln, das ist auch klar. Vielleicht kannst du mich mitnehmen nach Koblenz. Eine Assistenzprofessur, das klingt besser als halbe Stelle.«
    Sein Chef lacht: »Bis fünfunddreißig, Rüdiger, das ist die Bedingung. Höchstens fünfunddreißig, keinesfalls älter. Es handelt sich natürlich um eine Juniorprofessur, die sie mir zusätzlich zugestehen. Auch Koblenz will junge Leute, jung, willig und billig. Wann immer ich einen Namen nenne, hier wie dort, kommt zuallererst die Frage nach dem Alter. Wenn ich von Leistungen spreche, von Publikationen, internationaler Reputation, nicken sie und fragen nach dem Alter meines Kandidaten. Der Pensionsfonds darf nicht belastet werden, das gibt den Ausschlag. Ich habe dir einmal Hoffnungen gemacht, das tut mir noch heute leid, Rüdiger. Vor zehn, fünfzehn Jahren schien es möglich, anderenfalls hätte ich nie von einer Festanstellung gesprochen, heute ist es vollkommen aussichtslos, zumal für Leute in unserem Alter, die in einigen Jahren pensioniert werden.«
    »Gehst du nach Koblenz?«
    »Dieses Institut habe ich aufgebaut, das ist meine Arbeit, meine Leistung, soll ich das einfach aufgeben? Ich versuche durchzuhalten, Rüdiger, auch euretwegen.«
    »Dafür soll ich mich bei dir bedanken?«
    »Nein, aber ich fände es nicht schlecht, wenn du nicht noch einmal sagst, ich würde dir irgendetwas streichen, ich würde irgendetwas verhindern. Das genaue Gegenteil ist der Fall, auch wenn ich nicht unentwegt darüber rede. Ich habe die Konferenz nicht gestrichen, ich bin deswegen sogar bis zum Prorektor marschiert.«
    »Entschuldige, Frieder.«
    »Jaja, schon gut. Hast du sonst noch etwas auf dem Herzen?«
    Die scheinbar freundliche und besorgte Frage stellt er mit einem so verbitterten Unterton, dass Stolzenburg ihn irritiert anschaut. Ohne aufzusehen, fügt Schlösser hinzu: »Und ich bin es müde, Rüdiger, ich bin es sehr müde.«
    Stolzenburg verabschiedet sich, er ist jetzt verlegen. Schlösser erwidert nichts und sieht nicht von den Papieren auf, als sein Kollege den Raum verlässt.
    Im Seminar ist Stolzenburg unkonzentriert und gelangweilt, er ist mit sich selbst unzufrieden und beschimpft die Studenten, sie hätten sich geistig bereits in die Weihnachtsferien verabschiedet, was diese unbeeindruckt und mit lärmender Heiterkeit quittieren. Nach den beiden Stunden setzt er sich in das leere Sekretariat, um seine Institutspost durchzugehen und zu beantworten, bevor er sich

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