Weiskerns Nachlass
mehrere Lautsprecherboxen befinden, steht ein aufgeklappter und anscheinend sehr alter Flügel, den er sich genauer anschaut. Er lässt die Finger über das Holz gleiten und die Tasten, fast ohne sie zu berühren. Eine junge Frau kommt auf ihn zu, stellt sich als die Gastgeberin vor und erkundigt sich, ob er Klavier spiele. Stolzenburg bejaht, fügt aber hinzu, er kenne die Firma nicht, die diesen Flügel herstellte, wobei er auf die Tastaturklappe verweist, auf der in stattlichen Lettern der Schriftzug Grotrian, Helfferich, Schulz, Th. Steinweg Nachfolger prangt.
»Das will ich Ihnen gern glauben«, sagt Frau von Stolzenberg stolz, »diese Flügel wurden auch nur ein Jahrzehnt lang hergestellt, oder vielmehr Flügel mit dieser Aufschrift. Es ist ein Steinway, allerdings aus einer Zeit, als Mister Steinway noch der deutsche Herr Steinweg war. Der Flügel ist mehr als hundert Jahre alt, hundertdreißig, hundertvierzig Jahre, ich müsste in den Papieren nachsehen. Jedenfalls ein altes Stück und bestens gepflegt und in Schuss. Gelegentlich laden wir Pianisten ein, fast immer sind es Koreaner oder Chinesen, das sind derzeit die allerbesten, glaube ich, und alle waren von unserem Prachtstück entzückt.«
Stolzenburg zeigt sich beeindruckt.
»Sind Sie auch aus der Branche?«, erkundigt sie sich mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Aus der Branche?«, fragt er.
»Nun ja«, sagt sie und weist mit einer Rundumgeste in die Räume, »hier ist doch alles Batterie und Akku.«
Stolzenburg erläutert ihr, wer er und wieso er hier sei, sagt, er unterrichte den jungen Herrn Hollert in Literatur und Kulturgeschichte.
»Ah ja«, sagt sie, nickt ihm freundlich zu und geht ins Nachbarzimmer.
Stolzenburg schlendert ins Balkonzimmer, in dem sich auf zwei Tischen Platten mit Canapés verteilen. Er nimmt sich einen Teller und füllt ihn reichlich mit den Appetithäppchen. Offenbar wird kein Essen serviert, und sehnsüchtig denkt er an seine Billardrunde, die nach eingebürgerter Gewohnheit in etwa einer Stunde das Spiel unterbrechen wird, um eine üppige und deftige Mahlzeit einzunehmen, bevor sie die Endrunde eröffnet. Auf dem Balkon unterhalten sich ein junger Mann und ein Mädchen und rauchen verstohlen und hastig gemeinsam eine Zigarette. Als sich Stolzenburg den Teller zum dritten Mal füllt und Gebäckstücke aus Blätterteig übereinandertürmt, wird er von dem jungen Paar angesprochen, das vom Balkon zurückkehrt. Sie fragen ihn, welche Canapés er ihnen empfehlen könne, da sie offenbar bemerkt hatten, wie ausgehungert er darüber hergefallen war, und erkundigen sich, ob er zur Stuttgarter Firma gehöre. Er sagt, er lehre und forsche an der hiesigen Uni, und das Mädchen unterbricht ihn begeistert, jetzt wisse sie, wer er sei, sie habe von ihm schon viel gehört, und erklärt ihrem Begleiter, dassder Canapésfreund eine entscheidende, eine tatsächlich revolutionäre Version der Solarakkus entwickelt habe. Stolzenburg erhebt lächelnd Einspruch, er sei nicht Batterie und Akku, er unterrichte Literatur und Kunsttheorie. Das Mädchen ist enttäuscht und entschuldigt sich, ihr Begleiter schaut Stolzenburg verwundert an.
»Literatur und Kunsttheorie«, sagt er erstaunt, »das ist toll. Klingt aufregend.«
Beide wenden sich ohne ein weiteres Wort von Stolzenburg ab und verlassen das Balkonzimmer. Bei seiner anschließenden dritten Runde durch die Räume tritt Sebastian Hollert auf ihn zu. Er dankt ihm dafür, dass er gekommen sei, und entschuldigt sich für die Verspätung, Onkel Friedl habe unbedingt noch einen Antiquar aufsuchen wollen und damit ihren Terminplan durcheinandergebracht, der Onkel und sein Vater würden jeden Moment erscheinen. Er führt ihn zu von Stolzenberg, der mit mehreren jungen Leuten zusammensteht, unter ihnen ist das Paar vom Balkon, und stellt ihnen Stolzenburg vor. Sebastian Hollert wird von allen mit Hallo begrüßt, die jungen Leute geben sich Wangenküsse. Das junge Mädchen, mit dem Stolzenburg gerade eben gesprochen hatte, erweist sich als die Tochter des Hausherrn und studiert das letzte Jahr in Sydney, um im kommenden Semester an die École de technologie supérieure in Québec zu wechseln. Ihr Bruder ist Gymnasiast in Bern und wird ab September Jura in Paris studieren, wo Konstantin, ein Physiker und Freund der Tochter, im fünften Arrondissement lebt. Konstantin ist für ein Jahr als einer der wenigen Ausländer ans Collège de France berufen worden, was, wie er Stolzenburg sagt, eine
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