Weiskerns Nachlass
haben sie alle, einer hat sogar mit vier Frauen vier Kinder. Kennengelernt hatten sie sich beim Wasserball, Mannschaft Alte Herren, inzwischen umbenannt in SoMa, Sondermannschaft, doch inzwischen spielt keiner mehr diesen kräftezehrenden Sport. Anfangs, als Stolzenburg am Institut begonnen hatte, trafen sie sich im Beyerhaus, einer verräucherten Innenstadt-Kneipe, aber zu oft wurden sie dort von Studenten angesprochen, die diesen oder jenen Dozenten erkannten und die Gelegenheit in dem verqualmten, bierseligen Raum nutzen wollten, um Hilfe bei einer Hausarbeit zu erbitten oder sich kumpelhaft mit ihremHochschullehrer zu befreunden, und so hatten sie sich entschlossen, ihr monatliches Treffen in den Billardsalon in der Berliner Straße, gegenüber den Bahngleisen, zu verlegen, um ungestört unter sich zu sein.
Um sieben Uhr verlässt er die Wohnung. Sein Blick fällt dabei auf die Hollertsche Einladung, die kleine, handgeschriebene Karte, die er in den Flurspiegel gesteckt hat. Er liest den Text noch einmal und schließt die Wohnungstür ab. Als er am Ring ist, steigt er vom Fahrrad, holt sein Handy hervor und ruft Friedrich an, den Mathematiker, der den Billardabend organisiert und dafür sorgt, dass nie zu wenige kommen und notfalls neue Mitspieler einlädt, die, je nachdem wie sie sich in die Gruppe einfügen, dann zu ihnen gehören oder niemals wieder eingeladen werden. Fritz ist vor sechzehn Jahren aus Bochum gekommen, die Leipziger Universität hatte ihm eine auf drei Jahre befristete Gastprofessur angeboten, die einmal verlängert wurde. Die Versprechen auf unbefristete Anstellung wurden nie eingelöst, Fritz bekam danach mit Glück eine Mitarbeiterstelle und hat sich mittlerweile damit abgefunden. Auch Fritz weiß, er ist inzwischen zu alt, um an einer anderen Universität verbeamtet zu werden, und hat verstanden, dass er zufrieden sein muss, an der Fakultät bleiben zu dürfen und ihm das Schicksal eines Privatdozenten erspart geblieben ist, der nach seiner Habilitation von trügerischen Hoffnungen zu leben hat und im Alter schließlich Hartz IV erhält.
Stolzenburg entschuldigt sich bei ihm. Er könne heute Abend nicht kommen, sagt er, er müsse leider einen beruflichen Termin wahrnehmen. Dann fährt er nach Hause, öffnet den Kleiderschrank, holt ein weißes Jackett hervor, das etwas älter ist, aber von gutem Tuch. Für einen Moment mustert er sogar die paar Krawatten in der Schranktür, entscheidet sich dann aber für ein Seidentuch. Viertel nach neun klingelt er an der Wohnung im zweiten Stock eines prächtigen Gründerzeitbaus in der Schwägrichenstraße. Er hört Stimmen hinter der Tür und Gelächter, er muss einige Sekunden warten und betrachtet den gotischen Namensschriftzug auf dem Türschild: von Stolzenberg, bis ihm ein junger Mann in dunklem Anzug öffnet. Stolzenburg stellt sich vor und will ihm die Hand geben, doch der verweist mit einer einladenden Geste auf die offenen Zimmer, in denen die Gäste stehen. Stolzenburg ist für einen Moment verlegen, weil er offenbar einem der Kellner die Hand reichen wollte, und er ist, als er die prächtigen Blumenarrangements in den riesigen Porzellanvasen sieht, zufrieden, dass er keine Blumen mitgebracht hat, die hier eindeutig unpassend wären. Der junge Mann nimmt ihm den Mantel ab und fragt, was er trinken möchte, und noch bevor Stolzenburg das erste Zimmer betritt, hat er ein Weinglas in der Hand. Ein älterer Mann kommt auf ihn zu, stellt sich ihm als Gastgeber vor und hört erfreut, dass ihn ein Fast-Namensvetter besucht. Er fragt ihn, welchem seiner Freunde er das Vergnügen verdankt, dass er seine Bekanntschaft machen dürfe, und sagt dann, die Brüder Hollert seien noch nicht eingetroffen, auch der junge Sebastian Hollert nicht. Er bietet ihm an, ihn seinen Gästen vorzustellen, Stolzenburg bedankt sich, erklärt, er werde sich selbst vorstellen, wie es sich im Gespräch ergäbe, das vereinfache einiges, und er könnte sich dann leichter Gesichter und Namen einprägen.
»Sehr vernünftig«, lobt ihn von Stolzenberg. Er verweist auf das Balkonzimmer, in dem Häppchen bereitstehen, klopft ihm auf die Schulter und wendet sich anderen Gästen zu.
Stolzenburg wandert langsam durch die offenen Zimmer, grüßt mit einem Kopfnicken, wenn er begrüßt wird, sieht sich die Gäste an, von denen er keinen kennt, und die prächtige, riesige Wohnung. Bücher kann er nirgends entdecken, aber inmitten des Zimmers, in dem sich ein riesiger Fernseher und
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