Weiskerns Nachlass
verstört. Für ihn hat sie überzogen und unangemessen reagiert, er hat nichts verheimlicht und verschwiegen, ihr Vorwurf ist unsinnig, hysterisch geradezu. Er fragt sich, was er falsch gemacht haben könnte. Sie kennen sich kaum, sie kennen sich noch gar nicht, sagt er sich, vielleicht war er zu direkt, vielleicht ist das Ganze ein Missverständnis, vielleicht sollte er Patrizia anrufen und sich mit ihr verabreden. Mit Patrizia könnte er auch bei Millionärs erscheinen, sie würde die alten Herrn sicherlich beeindrucken. Verärgert packt er seine Tasche und radelt ins Institut, im Korridor kommt ihm Marion entgegen, die bereits Feierabend hat, und fragt ihn nach Henriette.
»Ich soll Grüße bestellen«, sagt er und sieht ihr dabei in die Augen, doch sie bleibt heiter und unbefangen.
»Alles in Ordnung«, fährt er fort, »wir waren gestern zusammen und haben eben telefoniert.«
Im Seminarraum warten die drei Studenten, die ihm die Vorschläge für ihre Diplomarbeiten vorstellen wollen, zwei Mädchen und ein Junge. Sie haben die Stühlezusammengeschoben und sich im Kreis gesetzt. Als er das Zimmer betritt, nimmt der Junge rasch eine Blechbüchse vom Fußboden hoch und steckt sie in seine Hosentasche. Sie haben geraucht, aber Stolzenburg ist es überdrüssig, sie zu ermahnen. Er hört sich, mit Gedanken immer noch bei Henriette, an, was sie vortragen. Eins der Mädchen, eine rotblonde Schönheit, die sich ihrer Ausstrahlung und Wirkung bewusst ist, scheint gelangweilt zu sein und rutscht auf ihrem Stuhl hin und her. Als sie an der Reihe ist, ihm zu sagen, welches Thema sie sich für ihr Diplom ausgesucht hat, erzählt sie, ein Dramaturg in Essen habe ihr vorgeschlagen, die Geschichte des Grillo-Theaters zu erforschen, sie habe von ihm bereits viel Material erhalten und die Arbeit könnte sogar veröffentlicht werden. Während sie erzählt, lehnt sie sich zurück und rutscht auf ihrem Stuhl nach vorn, so dass sie nur noch auf der Kante sitzt, das Kleid wird dabei hochgestreift und enthüllt zur Hälfte ihre Oberschenkel. Stolzenburg fragt sich, ob sie die Blöße nicht bemerkt oder es Absicht ist. Er muss sich zwingen, ihr ins Gesicht zu sehen und den Blick nicht zu ihrem Höschen wandern zu lassen, das zwischen ihren Schenkeln hervorschimmert.
»Ein Dramaturg«, sagt er gedehnt, »und er hat Ihnen auch eine Stelle versprochen?«
»Vielleicht«, sagt sie schnippisch und lacht.
»Dann machen Sie das, Lilly. Schreiben Sie die Geschichte des Grillo. Für mich ist das eher unwichtig, aber wenn Sie damit dort eine Stelle bekommen, ist das Gold wert.«
»Wirklich? Sie sind einverstanden?«
»Wird dieser Dramaturg die Arbeit betreuen?«
»Er wird mir helfen, aber die Arbeit will ich bei Ihnen schreiben.«
Stolzenburg nickt, dann fragt er den jungen Mann nach seinem Projekt, wobei er wiederholt den Blick über Lillys Oberschenkel streifen lässt. Er hat das Gefühl, dass das Mädchen sich ihm anbietet, und der Gedanke ist ihm nicht unangenehm.
Eine halbe Stunde später ist alles beendet, er verlässt mit den Studenten den Raum. Bei der Verabschiedung sagt Lilly: »Und ich hoffe, Sie betreuen mich gut. Die Arbeit kann für mich entscheidend sein.«
»Ich werde tun, was ich kann, Frau Riesebach, ich werde Sie nicht aus den Augen lassen«, antwortet er, und sein Ton ist dabei ebenso zweideutig wie ihrer. »Aber alles hängt von Ihnen ab, ich lasse mich überraschen.«
Sie grinst ihn an, dann ihre Kommilitonen. Als sie den Gang entlanggehen und er ihnen nachsieht, hebt Lilly eine Hand und winkt ihm zu, ohne sich umzudrehen. Offenbar ist sie sich ihrer sehr sicher. Oder so verzweifelt, dass sie zu allem bereit ist.
Neunzehn
Für den Abend ist er im B69 zum Billard verabredet. Einmal im Monat trifft er sich dort mit Freunden, um ein paar Partien zu spielen, Bier zu trinken und über die Zeiten und die Stadt zu klönen. Der Kreis besteht aus einem halben Dutzend gleichaltriger Männer, das ist der feste Stamm, zu dem immer der eine und andere Neuling, ein Freund der Freunde, hinzukommt. Fast alle sind an der Universität beschäftigt, einer arbeitet für einen Verlag, und einer, der Einzige mit einer richtigen und festen Stelle, ist Gymnasiallehrer, verbeamtet, worüber die anderen sich gern lustig machen, aber es ist ein gutmütiger Spott, man höhnt verständnisvoll und ein wenig neidisch auf diese abgesicherte Existenz. Nur zwei von ihnen sind verheiratet, einige sind geschieden, andere leben getrennt, ein Kind
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