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Weiß wie Milch, rot wie Blut - D'Avenia, A: Weiß wie Milch, rot wie Blut - Bianca come il latte, rossa come il sangue

Weiß wie Milch, rot wie Blut - D'Avenia, A: Weiß wie Milch, rot wie Blut - Bianca come il latte, rossa come il sangue

Titel: Weiß wie Milch, rot wie Blut - D'Avenia, A: Weiß wie Milch, rot wie Blut - Bianca come il latte, rossa come il sangue Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alessandro D'Avenia
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Silvias Mutter. Wenn ich mir, von meiner eigenen abgesehen, eine Mutter aussuchen dürfte, würde ich Silvias Mutter nehmen.
    Silvias Zimmer riecht nach Lavendel. So heißen die Blumen, die kleingerupft in einer Schale auf dem niedrigen Tisch stehen. An den Wänden hängen Poster, genau wie bei mir. Fotos allerdings auch. Fotos von Silvia als Kind, mit den Eltern, mit ihrem kleinen Bruder, in der Grundschule während einer Aufführung, verkleidet als Nachtblaue Fee. Ich hab’s gelesen, sie ist die Nachtblaue Fee und ich bin Pinocchio. Vielleicht ist Silvia diesem Buch entsprungen.
    An jeder Wand prangt ein Bild von ihr: ein Segelboot vor einem leuchtend hellen, fast weißen Himmel, der mit dem milchigen Meer verschmilzt; ein Wald aus strichdünnen Bäumen, die Birken heißen und ihr nach einer Schwedenreise im Sinn geblieben sind; ein rotes Tulpenfeld vor einem blauen, fast violetten Himmel, ein Eindruck aus Holland. Ich mag Silvias Bilder. Man kann sich darin ausruhen. Man kann darin auf Reisen gehen.
    »Du musst mir schreiben helfen, Silvia.«
    »Nur wenn du ein Lied für mich spielst, wenn du wieder gesund bist.«
    Ich zwinkere ihr zu und schnalze dazu mit der Zunge, eine Spezialität von mir.
    »Welches?«
    »Mein Lieblingslied.«
    »Und das wäre?«
    » Aria , von Gianna Nannini.«
    »Kenn ich nicht…«
    Silvia schlägt die Hände vors Gesicht und schüttelt übertrieben den Kopf, wie sie es immer macht, wenn sie was nicht fassen kann.
    »Dann musst du’s lernen.«
    »Tut’s nicht vielleicht auch Talk von Coldplay?«
    »Entweder das oder keins«, sagt sie und tut beleidigt, dann lächeln ihre Augen.
    »Was soll ich schreiben: den Dante-Aufsatz oder das Referat über die Zelle?«
    »Einen Brief …«
    »Einen Brief? Aber das hatten wir doch gar nicht auf …«
    »… an Beatrice.«
    Silvia schweigt. Sie zieht eine Schublade auf, sucht nach etwas, und die Haare fallen ihr vors Gesicht. Es dauert ein Weilchen, bis sie Stift und Papier gefunden hat. Dann sieht sie auf.
    »Entschuldige … Also, ich bin soweit …«
    Ich diktiere, und Silvia schreibt. Der Brief geht so nicht mehr, ich will ihn ändern. Es ist ziemlich viel Zeit vergangen und die Worte des ersten Briefes passen nicht mehr. Mit gezücktem Stift sieht Silvia mich an, und ich suche nach den richtigen Worten. Ich finde keine. Ich finde keine Worte für Beatrice. Wenn mir die Worte für Beatrice ausgehen, bin ich am Ende.
    Die ersten wirklich eigenen Worte, die ich jemals geschrieben habe – die für die Schule zählen nicht –, sind die an Beatrice. Wenn ich es mir recht überlege, war es das erste Mal, dass ich überhaupt geschrieben habe, das erste Mal, dass sich meine Seele schwarz auf weiß in Worten niedergeschlagen hat. Denn die Seele ist weiß, und um sie zu zeigen, muss sie schwarz werden wie Tinte. Und wenn sie dann schwarz vor einem steht, kann man sie durchschauen, lesen, betrachten, als würde man vorm Spiegel stehen, und dann … verschenkt man sie.
    Liebe Beatrice,
    ich schreibe Dir diesen Brief …
    Langsam kommt meine Seele zum Vorschein, und Silvia bannt sie schwarz auf weiß in ihrer Handschrift, die sie eleganter, feiner, sanfter und klarer erscheinen lässt …
    … damit Dir meine Worte Gesellschaft leisten. Ich würde so gerne direkt mit Dir reden, aber ich habe Angst, Dich müde zu machen, Dich leiden zu sehen. Also schreibe ich Dir. Dies ist der zweite Brief, den ich Dir schreibe, der erste ist in der Tasche stecken geblieben. Ich hatte nämlich einen Unfall und bin im Krankenhaus gelandet. Deshalb habe ich jetzt, da es mir besser geht und ich nur noch den Arm in Gips habe, beschlossen, Dir noch einmal zu schreiben. Beatrice, wie geht es Dir? Bist Du müde? Bestimmt bist Du das. Ich habe Blut für Dich gespendet. Ich weiß, dass Du es brauchtest, und glaube, dass Du wieder gesund wirst, denn mein Blut wird Dich heilen. Da bin ich ganz sicher. Gandalf meint, gespendetes Blut ist heilsam. Er sagt, durch sein Blut hat Christus die Menschen für alle Zeit von der Sünde geheilt. Aber das ist eine komische Geschichte, weil von diesem Blut bisher nicht ein Tropfen in meine Adern gelangt ist. Wie auch immer, mir ge fällt diese Idee vom heilsamen Blut, und ich hoffe, dass mei nes Dich gesund macht. Durch mein Blut wird Dir etwas Wichtiges klar werden. Wenn es sanft Dein Herz durchströmt, wird es Dir von meinem Traum erzählen. Vom Traum, den ich habe. Träume machen die Menschen zu dem, was sie sind. Sie lassen sie wachsen.
    Silvia

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