Weiss
Projekte im Zusammenhang mit der Balkan-Route.«
Blake lehnte sich zufrieden zurück. »Du hättest unsere Operation sehen sollen, sie trug die Bezeichnung ›Balkan Force‹. Im Lagezentrum unseres Hauptquartiers in Lyon habe ich einen umfassenden Überblick gehabt. Stell dir mal vor, fast dreitausend Polizisten sind gleichzeitig in Bosnien, Kroatien, Serbien, Slowenien, Montenegro, Albanien, Mazedonien, in der Türkei, im Kosovo, in der Ukraine, in Rumänien und Bulgarien im Einsatz gewesen – Straßensperren, Hubschrauber, Sondereinsatzkommandosder Polizei, Hunderte Hausdurchsuchungen und Festnahmen, die Befreiung von über zweihundert Kindern und Frauen …«
Birou sah einen kleinen Hoffnungsfunken schimmern. »Hat man die Haupttäter gefasst? Reichte die Operation auch bis nach Russland und Skandinavien, bis ins Baltikum?«
»Das sind nur Verteilungsgebiete, beschafft werden die Opfer des Menschenhandels zumeist auf dem Balkan und in der Ukraine. Aber der größte Teil der Kriminellen, die an der Balkan-Route beteiligt waren, konnte gefasst werden, die Aktivitäten auf der Route kommen garantiert zum Stillstand. Bei den Verhören der Schuldigen stehen wir natürlich erst am Anfang, der endgültige Erfolg der Operation hängt davon ab, was wir in den nächsten Tagen alles herausfinden.«
»Auch vieles andere hängt davon ab, was in den nächsten Tagen alles herausgefunden wird«, dachte Birou.
»Du bist ein guter Mensch, Gilbert. Anscheinend liegen dir die Opfer des Menschenhandels wirklich am Herzen«, sagte Anthony Blake und schaute auf seine Armbanduhr.
Die Männer verabschiedeten sich voneinander und versprachen, in Kontakt zu bleiben.
Gilbert Birou sank so lustlos wie noch nie auf seinen Bürosessel. Nichts interessierte ihn, nicht einmal das Essen. Er wartete. Er wartete auf den Anruf der Erpresser, seit er Interpol alle Informationen Karas übergeben hatte und auch die Erkenntnisse der UNODC-Gruppe zur Untersuchung des Menschenhandels und des Schmuggels von Migranten. Es war zum Teil sein Verdienst, dass man die Balkan-Route so gründlich zerschlagen hatte. Natürlich wäre es theoretisch möglich, dass die Erpresser nicht erfuhren, welche Rolle er gespielt hatte, aber das erschien zweifelhaft. Und dass die von Interpol koordinierte Operation ihn von der Schlinge um seinen Hals befreien würde, bezweifelte Birou erst recht. Wenn die Erpresser verhaftet waren, würden sie garantiert mit ihren Informationen ein Geschäft machen wollen und …
Das Telefon klingelte. Gilbert Birou wusste schon, bevor er auf dem Display
Unbekannter Teilnehmer
las, dass es genau dieser Anruf war, auf den er gewartet hatte.
»Das Bildmaterial, das Sie betrifft, wird im Laufe des Tages an die Redaktionen von ›Le Monde‹ und ›Der Kurier‹ geschickt«, sagte ein Mann in gleichgültigem Tonfall auf Englisch und legte auf.
Es fehlte nicht viel, und Gilbert Birou hätte sich für den Anruf bedankt. In gewisser Weise war er auch dankbar, dass die Erpresser ihre Absichten im Voraus mitteilten. So bekam er eine Chance. Er würde jetzt sofort nach Paris fliegen.
26
Montag, 16. August
Leo Kara fuhr mit Alberts Jaguar XJ die Fulham Palace Road entlang und fühlte sich extrem unwohl, obgleich er die Ledersitze und den Luxus des leistungsstarken Motors in Alberts Schmuckstück immer genossen hatte. Doch diese Gegend kannte er nur zu gut, es war schwierig, die auftauchenden Erinnerungen im Zaum zu halten. Plötzlich sah er seine Mutter vor sich, wie sie mit besorgter Miene nach der sechsjährigen Emma schaute, die gerade mit ihrem brandneuen hellroten Fahrrad die verkehrsreiche Palace Road überquert hatte. Er war jetzt nur einen Kilometer entfernt von Fulham und seinem Londoner Elternhaus, von dem Ort, an dem man ihn, Vater, Mutter und Emma seinerzeit entführt hatte.
Sein Handy meldete den Eingang einer SMS. Paranoid bestätigte, dass er Palomaas Bericht an die finnischen Behörden geschickt hatte. Es ging voran, sagte sich Kara.
Das siebenhundertfünfzig Hektar große Industrie- und Gewerbegebiet »Park Royal«, das größte Londons und ganz Europas, befand sich in Westlondon auf dem Territorium der Vororte Ealing, Brent, Hammersmith und Fulham. Leo Kara dankte dem Himmel dafür, dass es nicht mehr im Geringsten an das Gelände erinnerte, in dem er vor reichlich zwanzig Jahren die entsetzlichsten drei Tage seines Lebens verbracht hatte. Sogar das Gebäude der Guinness-Brauerei war abgerissen worden. Trotzdem konnte er
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