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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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Gedanke gekommen«, fuhr Franz endlich fort, »dass es auch für uns der beste Weg wäre?«
    Matthias setzte den Krug wieder ab, den er soeben zum Mund führen wollte. »Welchen Weg genau meinst du? Und wer ist ›uns‹?«
    »Herrgott, stell dich nicht törichter an, als du bist!«, fuhr Franz ihn an, und Matthias hatte nicht länger das Gefühl, einem Fremden gegenüberzusitzen. So kannte er seinen Bruder: aufbrausend und beleidigend. Die Worte mit Bedacht zu wählen, wie er sich gerade noch bemüht hatte, gehörte nicht zu seinen Wesenszügen. »Wir sollten nach Russland gehen, genau wie alle anderen Schlauberger hier. Ich sage es dir: In ein paar Monaten werden wir hier hausen wie die Einsiedler. Menschenleer wird das Land sein, die Äcker werden brachliegen, die Felder verwildern. Wir schuften uns buckelig, während alle anderen fern der Heimat die Sahne abschöpfen.«
    Matthias stieß ein freudloses Lachen aus, bevor er den Krug ansetzte und in einem Zug leerte. »Was denkst du dir, Bruder«, er rülpste leise. »Eher bekommst du einen Ochsen auf den Kirchturm als Mutter auf die Reise. Und Hannes …« Matthias presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen und starrte wieder durch die mit Schmutzschlieren verschmierte Scheibe auf den Kirchplatz, wo das behäbige Treiben noch zugenommen hatte. Rund um den Markt lagerten neben ihren voll bepackten Wagen Zigeunern gleich die ausreisewilligen Menschen – Handwerker und Künstler, Gelehrte und Huren, Bauern und Beamte – und beobachteten genau wie Matthias, wie das hohe Kirchenportal ein frischgebackenes Ehepaar nach dem anderen entließ. »Als Alleinerbe steht Hannes nicht übel da. Er wird den Teufel tun und Haus, Hof und Vieh aufs Spiel setzen.«
    Franz beugte sich vor. Sein Bieratem wehte Matthias ins Gesicht. »Wer spricht von Mutter und Hannes?«, zischte er und versprühte Spucketropfen. »Glaubst du, ich würde mich abmühen, die beiden zu ihrem Glück zu zwingen? Sollen sie doch hierbleiben und hungers verrecken – was kratzt es mich? Mit dir will ich weg. Nur mit dir, Matthias. Wir beide … Was haben wir hier noch verloren, hm? Sag es mir! Als Knechte verdingen wir uns bei dem eigenen Bruder. Wir arbeiten, wir essen, wir schlafen und arbeiten wieder – ganz wie die Ackerpferde, hü, hott und brrr. Ein Tag nach dem anderen vergeht hier in ewig gleicher Tretmühlenarbeit. Wozu das alles? Für den Wohlstand unseres Bruders. Und das Gekeife der Alten verfolgt mich jede Nacht im Traum. Nicht mal ein Weib können wir uns nehmen, denn was haben wir zu bieten? Nur die Lumpen, die wir am Leib tragen. Hungerleider sind wir, Lumpenhunde, die darauf hoffen müssen, eine Frau zu finden, die eigenen Besitz mit in die Ehe bringt. Wer weiß, was das für eine sein wird! Aber haben wir eine Wahl? Nein, haben wir nicht. Eine pockennarbige Missgeburt müssten wir nehmen, wenn sie uns nur wollte. Ist es das, was du dir vom Leben erhoffst? Ist es das, Matthias?«
    Matthias sah seinem Bruder in die regengrauen Augen und schwieg. Nein, diese Gedanken waren ihm nicht fremd.
    Wer in Büdingen und Umgebung war nicht vom Russlandfieber angesteckt? Aber es erschien ihm irrwitzig, für eine ungewisse Zukunft alle Brücken in der Heimat abzubrechen.
    Was wussten sie von diesem fremden Land, außer dass es unendlich weit war und dass es von einer unermesslich schönen Deutschen beherrscht wurde? Wodka soffen sie da, und an den Ufern der Newa hatte Zar Peter eine Stadt aus dem Boden gestampft, die das Tor zum Westen sein sollte, eine Stadt mit goldenen Kuppeln, einem riesigen Hafen und prachtvollen Palästen, die seinen Namen trug: Sankt Petersburg.
    Was bedeutete es, dass die Zarin eine dermaßen aufwendige Besiedelungspolitik betrieb?
    Matthias fehlte die Gutgläubigkeit anzunehmen, dass sie aus Heimatverbundenheit und tiefverwurzelter Menschenliebe die vom Krieg gebeutelten Deutschen zu sich holte, um ihnen zu einem würdevolleren Leben zu verhelfen. Irgendeinen Nutzen versprach sie sich. Matthias hätte viel darum gegeben, ihre wahren Gründe zu erfahren. Er glaubte nicht daran, dass ein Paradies auf die Auswanderer wartete.
    Die ihrer Abreise harrenden Aussiedler überschlugen sich in ihren Schilderungen, wie fruchtbar der Boden war, wie mild das Klima, wie großzügig die Zuwendungen sein würden … Sie malten sich ihr neues Leben in schillernden Farben aus und überboten sich gegenseitig in blumigen Ausschmückungen ihrer Träume und Visionen.
    Aber war es

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