Weiße Nächte, weites Land
Übelkeit und Schwindel erfassten sie zur gleichen Zeit, ließen sie schwanken und ihre Hände hilflos auf der Suche nach einem Halt um sich greifen. Die Gesichter um sie herum zerflossen. Daniel, dachte sie. Daniel. Schließlich wurde es nachtschwarz um sie. Stechender Schmerz raste durch ihren Arm, als sie hart zu Boden stürzte und das Bewusstsein verlor.
33. Kapitel
A njas Atem ging immer noch schnell, als Bernhard mit dem vertrauten Stöhnen über ihr erschlaffte und sein Körper sich wie eine süße Last auf ihrem entspannte. Weit spreizte sie die Beine, schlang sie um seinen Rücken, um ihn so lange wie möglich bei sich zu behalten, diesen geliebten Mann, der ihr Nacht für Nacht seine Zuneigung bewies und nicht müde wurde, ihren Körper mit Händen und Lippen zu erkunden.
Jedes Mal, wenn sie mit Bernhard den Höhepunkt erreicht hatte, liefen hinterher Tränen über ihre Wangen. Am Anfang hatte sie sich geschämt und ihr Gesicht abgewandt, aber als er sie vor Freude weinen sah, hatte er ihr die Tränen von den Wangen geküsst, bevor seine Lippen sich auf ihren Mund legten und seine starken Arme sie aufs Neue an sich zogen.
»Ich liebe dich so sehr«, flüsterte er in ihr Ohr, während sie noch die Schauer der Lust durchzuckten.
Der Himmel auf Erden, ging es Anja durch den Sinn. Sie hatte hier an der Wolga in den Armen ihres Mannes wirklich den Himmel auf Erden gefunden.
Wie anders hatten ihre Pläne ausgesehen, damals, als sie von Hessen aufgebrochen war. In Moskau wollte sie leben, mit Tüchtigkeit und Fleiß beweisen, dass sie imstande war, eine Apotheke zu leiten. Und was war daraus geworden? Sie war in der Steppe hinter der Wolga gelandet und betrieb in dem Kolonistendorf einen apothekenähnlichen Laden, in dem es die wichtigsten Medikamente, Verbandzeug, Heilkräuter und Tinkturen gab. Einen Laden, den sie zwar nach ihrer Lehrzeit in der Sarepta-Kolonie mit Engagement betrieb, der aber nicht zu ihrem Lebensinhalt geworden war. Jederzeit würde sie, ohne zu zögern, die Apotheke gegen die Arbeit in der Backstube oder auf den Feldern eintauschen, wenn nur Bernhard bei ihr blieb.
Hätte ihr jemand vor fünf Jahren diese Wende in ihren Träumen prophezeit, sie hätte schallend gelacht.
Aber wie hätte sie denn auch ahnen können, dass es tatsächlich einen Mann gab, der sie nicht nur annahm, wie sie war, sondern der sie liebte, als wäre sie eine Göttin und vom Himmel zu ihm hinabgestiegen? Genau dieses Gefühl vermittelte Bernhard ihr bei allem, was er tat und sprach.
Sie war stolz auf alles, was sie von den Brüdern der Herrnhuter Gemeinde gelernt hatte. Das eine Jahr hatte sie in ihrem Wissen um die Heilkunde um Längen vorangebracht – mehr als all die Jahre davor unter den Fittichen ihres Vaters. Aber ihr Stolz auf das berufliche Weiterkommen verblasste angesichts der Tatsache, dass Bernhard sie nach einem Jahr nicht nur gebeten hatte, zurück in die Kolonie Waidbach zu kommen, sondern auch, seine Frau zu werden.
An die früheren Jahre der Demütigung und der Ablehnung erinnerte sie seitdem nur die abseits gelegene Hütte des Franz Lorenz, wo der Knecht wie ein Einsiedler hauste. Die Haare hingen ihm weiß und filzig weit über die Schultern. Auf einen knorrigen Stock gestützt, humpelte er mit hängender Wampe um die Rinder- und Schafherden herum. Manch einer pfiff die eigenen Kinder zurück, wenn sie dem Sonderling zu nah kamen. Anja hatte seit ihrer Rückkehr kein Wort mehr mit ihm gewechselt, und es war ihr recht so. Dieses Kapitel ihres Lebens war abgeschlossen. Vielleicht waren all das Leid, all die Kränkungen und die Schmach notwendig gewesen, um das Glück, das sie nun an Bernhards Seite erlebte, mit allen Sinnen genießen zu können. Und dankbar zu sein.
In aller Bescheidenheit hatten sie ihre Vermählung gefeiert, obwohl die Dorfbewohner sie drängten, zu einer ordentlichen Sause zu laden. Es gab wenig zu feiern, man freute sich über jeden Anlass, das Leid und die Not für ein paar Stunden beim Tanzen und Trinken zu vergessen. Aber man ließ die beiden schließlich in Ruhe, als sich herumsprach, dass es bald eine weitere Hochzeit zu feiern gebe.
Bereits im vorangegangenen Herbst hatte man Gregor Schmied die Hochzeitsabsichten an der Nasenspitze ablesen können – oder besser daran, dass er eines seiner Pferde besonders kräftig fütterte, um damit seine Braut im Frühjahr stattlich heimzuführen. Obwohl darum, wer die Braut sei, traditionell ein Geheimnis gemacht wurde,
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