Weiße Nächte, weites Land
Steppenwüste entwachsen. Die besten Jahre ihres Lebens verschleuderte sie in diesem dürftigen Kaff.
Bei den Männern der Kolonie war bekannt, dass Christina, wenn ihr einer einen Abend lang gefiel, durchaus nicht zögerte, mit ihm die Freuden der Liebeslust zu teilen. Allerdings blieb dies den Frauen nicht verborgen. Christina amüsierte sich darüber, wie sie mit finsterer Miene ihre Mannsbilder bewachten und sich besitzergreifend bei ihnen unterhakten, sobald sie auftauchte.
Dass sie nicht nur ihren eigenen Ruf ohne Scheu aufs Spiel setzte, sondern Matthias Hörner aufsetzte, war Christina gleichgültig. Und dass sich der anfängliche Hohn und Spott der Kolonisten gegenüber dem Ehemann in Mitgefühl für ihn wandelten, das in gleichem Maße wuchs wie die Abneigung ihr gegenüber, kratzte sie ebenso wenig. Nur wenn Eleonora sie beiseitenahm, um ihr ins Gewissen zu reden und sie davon zu überzeugen, dass es sich angenehmer lebte, wenn man sich den Regeln der Gemeinschaft anpasste, stieg ein Unbehagen in Christina auf, über das sie sich jedes Mal ärgerte.
Sollten sie sie doch alle in Ruhe lassen!
Matthias ging es doch nicht schlecht – besser jedenfalls als ihr. Vom Lehrmeister auf dem Acker hatte er sich zum wichtigsten Handelsreisenden der Kolonie entwickelt. Er unterhielt ausgezeichnete Kontakte nach Saratow, brachte aus der Wolga-Stadt alles mit, was die Bewohner nicht selbst herstellen konnten, und sorgte dafür, dass sie nach den ersten Angriffen der Nomaden mit Waffen ausgerüstet wurden, um nicht beim nächsten Überfall wieder hilflos dazustehen.
Der Graben, den sie ausgehoben hatten, bot zwar einen gewissen Schutz vor spontanen Raubzügen, aber er war nicht wirklich schwer zu überwinden, wenn man es ernsthaft auf das Eigentum der Kolonisten abgesehen hatte.
Wenn Matthias abreiste, standen sämtliche Kolonisten Spalier, um ihm die besten Wünsche und manches persönliche Anliegen – »Denkst du an die Rosenseife, Matthias?« – mit auf den Weg zu geben. Kehrte er heim, applaudierten sie und umlagerten ihn wie Kinder den heiligen Nikolaus. An diesem Abend wurde er nach vier Tagen in Saratow zurückerwartet. Die Bäckerinnen warteten auf Zucker, eine Handvoll junger Mägde auf Seidenstoffe, die Männer auf Ackergeräte und Wodka, der Pastor auf Kerzen.
Wenn es nach Christina gegangen wäre, hätte er noch weitere zwei Wochen fortbleiben können. Den einzigen Vorteil seiner Anwesenheit sah sie darin, dass er sich um Alexandra kümmerte, so dass sie nicht ununterbrochen an ihrem Rockzipfel hing, sobald sie die Schule verließ, in der Anton von Kersen mit Hingabe und Ehrgeiz die zahlreichen Kinder der Kolonisten unterrichtete.
Aber wenn Daniel zu Besuch in die Kolonie kam …
Nach wie vor fieberte sie seinen Aufenthalten in Waidbach entgegen. Das Licht über der Steppe erschien ihr klarer, die Luft wie gewaschen, die Gesichter der Menschen wirkten aufgeschlossener, die Gespräche lebendiger, wenn Daniel nur hier war.
Er nahm sich die Freiheit, das Land zu bereisen und in all seinen Facetten kennenzulernen, während sie selbst wie in Ketten lag.
In den vergangenen Jahren war er noch attraktiver geworden. Aus seinem Gesicht war das Jungenhafte verschwunden, das Kinn trat markanter hervor, winzige Fältchen umkränzten seine Augen, das blonde Haar war modisch geschnitten.
Christina hätte viel darum gegeben, nur ein Mal in seinen Armen zu liegen, in einer Mondscheinnacht in der Steppe mit ihm die Erfüllung zu finden, nach der sie sich sehnte. Inzwischen aber hielt ihn nicht mehr nur ihre Ehe davon ab, ein Techtelmechtel zu beginnen – inzwischen war ihm Matthias zum Freund geworden. Ließe er sich mit ihr ein, hätte er, wie Christina wusste, das Gefühl, einen lieben Vertrauten zu betrügen.
Dieser tugendhafte Zug in seinem Charakter war Christina zutiefst verhasst. Wie konnte ein Abenteurer wie er, der auf seinen Reisen gewiss nichts anbrennen ließ, sich von einer solchen Anständigkeit leiten lassen? Warum nicht einfach die Gunst der Stunde genießen und sich ein Leben lang an diesen Moment mit einem Prickeln auf der Haut erinnern? Christina hätte keine Sekunde gezögert.
Ihr Vorsprechen beim Pastor war ein weiterer Versuch gewesen, den freudlosen Zuständen in der Kolonie ein Ende zu bereiten. Wenn sie eine freie Frau war, hätte Daniel keinen Grund mehr, sich seine Sehnsucht nach ihr zu verbieten. Und vielleicht, vielleicht ergab sich eine Gelegenheit, dass er sie mitnahm, hinaus
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