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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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in die Welt, und sie befreite aus allen Zwängen, die ihr an manchen Tagen die Luft zum Atmen nahmen.
    Auch wenn Christina nicht klar umreißen konnte, welche Rolle sie in Daniels Leben spielen sollte – alles erschien ihr freudvoller, als hier zu vertrocknen.
    Daniel besaß ein unstetes Gemüt. Er hatte in Saratow ein paar Monate in einer Seidenmanufaktur gearbeitet, war einem deutschen Klavierbauer zur Hand gegangen und hatte sich später als Schauspieler verdingt. Aber auch das Theater, das unter italienischer Leitung stand und das besonders für die ohne Sprachkenntnisse zu verstehenden Prügelszenen mit dem Harlekin bekannt und beliebt war, vermochte Daniel nicht lange zu fesseln.
    Seit einigen Wochen hielt er sich in Moskau auf, wie Christina erfahren hatte, weit, weit weg von hier, und keiner wusste, was er dort tat und wann es ihn wieder an die Wolga verschlagen würde. Christina betete jeden Abend, dass ihn seine Pläne nach Saratow und zur Kolonie führen mochten.
    An der östlichen Dorfgrenze, kurz vor der Holzbrücke über den Graben, die Tag und Nacht bewacht wurde, versammelten sich die Menschen, die auf den Feldern gearbeitet hatten, in ihrer Arbeitstracht und spähten zum Horizont, wo sich ein Fuhrwerk, umwölkt von Staub, näherte.
    Christina schlenderte zu den Wartenden und sah wenige Augenblicke später zwischen den Köpfen der anderen hindurch, dass Matthias auf dem Kutschbock des Fuhrwerks saß. Sein hoch beladener Wagen rumpelte über die Steppe, die drei Pferde liefen im Trab.
    Bewegung kam in die wartende Schar. Einige hetzten davon, um ihre Angehörigen zu benachrichtigen, damit sie Matthias begrüßen und die bestellten Waren gleich in Empfang nehmen konnten.
    Als er sich näherte, sah Christina, wie verbissen und blasswangig sein Gesicht wirkte. Ob die Geschäfte in Saratow schlecht gelaufen waren?
    Ein Zupfen an ihrer Schürze ließ sie nach unten direkt in die Augen ihrer Tochter schauen. »Kommt Vater heim?«, fragte Alexandra.
    Vater! Das Bild von Johann Röhrich – sein feuchter Mund, seine geäderte, knorpelige Nase – stieg in Christina auf, wann immer Alexandra das Wort »Vater« aussprach.
    Christina zwang sich zu einem Nicken. »Ja, los, lauf zu ihm!«
    Alexandra trottete davon, drückte sich an den Wartenden vorbei und drängte sich in die erste Reihe, um den Vater begrüßen zu können.
    Endlich war er heran. Christina erkannte, dass sein Gesicht nicht nur leichenblass mit einem grünlichen Unterton war. Unter seinen Augen lagen schwarze Ringe, und auf seiner Stirn standen Schweißperlen. Abwehrend hob er die Hände, als die Leute ihn bestürmten und nach diesem und jenem fragten, womit sie ihn beauftragt hatten.
    »Immer mit der Ruhe, Leute, ich habe an alles gedacht. Komm, Gregor!« Er winkte den jungen Kolonisten zu sich heran, der einen lässigen Schritt nach vorn tat und dabei auf einem Halm kaute, den er von einem Mundwinkel in den anderen schob. »Hilf beim Verteilen der Ware! Dass keiner zu kurz und jeder zu seinem Recht komme.« Er hielt einen Moment inne, atmete schwer und presste sich die Hand auf den Unterleib, als litte er Schmerzen. Irgendwas stimmte nicht. Christina reckte den Hals.
    »Es gibt schlechte Nachrichten«, stieß Matthias schließlich hervor. Der Schweiß auf seiner Stirn lief nun in Bächen seine Schläfen hinab, an denen das feuchte, von vereinzelten grauen Strähnen durchzogene Haar klebte.
    Die Leute schwiegen, starrten Matthias an, warteten, dass er weitersprach.
    »Die … die Pest ist ausgebrochen.«
    Ein Aufschrei ging durch die Umstehenden. Sie stoben auseinander, als hätte sich in ihrer Mitte die Erde aufgetan.
    Alle riefen durcheinander, stellten Fragen, manche beteten, andere lamentierten.
    Christina griff sich an den Hals. Nicht auch das noch …
    »Beruhigt euch, Leute!«, rief Matthias über den Lärm hinweg. »Der Schwarze Tod wütet nicht in Saratow, sondern weit weg von uns.«
    »Aber wo?«, rief eine der Kolonistinnen mit schriller Stimme. »Sind wir in Gefahr?«
    Matthias schüttelte den Kopf. »Ich denke nicht, dass die Seuche bis zu uns vordringt. Doch Tausende Russen hat sie schon dahingerafft …« Er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare.
    »Wo, in Herrgotts Namen?«, kam es wieder aus den Reihen der Umstehenden.
    Matthias sah auf wie aus tiefer Versunkenheit. Seine Lider wirkten schwer und geschwollen, seine Züge blutleer und faltig. »In Moskau.«
    Ein rasend wirbelnder Wind schien Christina zu packen.

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