Weiße Nächte, weites Land
flüsterte man sich hinter vorgehaltener Hand Helmine Röhrichs Namen zu. Und diese erweckte mit ihren rosigen Wangen und den verklärten Blicken nicht im Geringsten den Eindruck, als beabsichtigte sie, dem jungen Heißsporn einen Korb zu geben.
Nach der Schneeschmelze schickten die Verlobten einen Hochzeitsbitter von Haus zu Haus mit einer Stange, an der jeder Hausvater ein buntes Band befestigte, wenn er erscheinen wollte. Am Ende sah man vor lauter Bändern kaum noch den Stab, und alle wussten, dies würde eine besonders prachtvolle Hochzeit werden.
Anja erinnerte sich, wie schön Helmine an ihrem Jubeltag ausgesehen hatte – mit ihrem »Gschnatz«, einem Gebilde aus eigenem Haar, Bändern und Tüchern. Wer mit ihr tanzen wollte, der steckte ihr einen Papierrubel ans Kleid, bis das Brautkleid bedeckt war von Geldscheinen.
So glücklich und strahlend hatte Helmine an diesem Tag ausgesehen, dass Anja kurz bereute, nicht selbst pompöser gefeiert zu haben. Was für eine wunderbare Erinnerung wäre ein solcher Tag für alle Ewigkeit. Aber dann hatte sie an der Festtafel nach Bernhards Hand gegriffen, in seine Augen geschaut und gewusst, dass sie niemals in ihrem Leben von Erinnerungen zehren müsste. Das Band zwischen Bernhard und ihr würde auch nach zwanzig Ehejahren nicht ausdünnen und verblassen.
»Denkst du noch an die Aufregung von heute Mittag?«, fragte Bernhard in die Stille der Schlafkammer hinein. Lamberts leises Schnarchen am Fußende des Bettes war das einzige Geräusch. Die Kerzen auf den Nachttischen flackerten im sanften Wind, der durch das halbgeöffnete Fenster drang. Die zugezogenen Gardinen aus schwerem dunklem Leinen, die im Sommer die Hitze abhielten, bewegten sich sacht.
Anja, den Kopf in seiner Armbeuge, nickte. Mit einer Hand kraulte sie in seinen Brusthaaren. »Du meinst Christina? Die kommt schnell wieder auf die Beine. Der Doktor sagte, das war nur eine vorübergehende Schwäche. Die Verletzung an ihrem Arm ist nur ein Bluterguss, kein Bruch.«
Gleich neben dem Apothekerladen gab es inzwischen ein Doktorhaus, in dem mit Unterstützung von Hebamme Veronica auch die Kinder zur Welt gebracht wurden. Ein weiterer Verdienst von Bernhard, dem nicht nur Kirche und Schule von Anfang an ein Anliegen gewesen waren, sondern auch die medizinische Versorgung der Kolonisten. Was für ein Glück, dass sie die Sarepta-Kolonie gefunden hatten, die ihnen bei all diesen Belangen tatkräftig zur Seite gestanden hatte und jederzeit aushalf, wenn es Engpässe gab. Der junge Arzt Cornelius Frangen, der ins Doktorhaus gezogen war, verfügte zwar noch nicht über viel Erfahrung, aber dennoch war es tröstlich, einen Mediziner in der Nähe zu wissen.
Anja wusste, dass es um die anderen Kolonien entlang der Wolga weitaus schlechter bestellt war. Aber die hatten keinen Vorsteher wie Bernhard Röhrich. Sie küsste ihren Mann auf die Wange. Die Bartstoppeln kitzelten sie.
Anders als erwartet, küsste Bernhard sie nicht zurück. Sein Gesicht war sorgenvoll, die Stirn von Falten gefurcht, um seinen Mund lag ein bitterer Zug.
»Was bekümmert dich, Liebster?«, fragte sie in die plötzliche Stille hinein. »Es ist unwahrscheinlich, dass sich die Pest bis zu uns verbreitet. Die Zarin wird dafür sorgen, dass keiner der Kranken Moskau verlässt, und die vermeintlich Gesunden werden in Quarantäne geschickt …«
»Nicht die Pest macht mir Sorgen«, erwiderte er. »Ich stimme dir zu – sie wird nicht weit über Moskau hinaus grassieren. Mir geht Christina nicht aus dem Kopf.«
Anja richtete sich auf, stützte die Hände auf seine Brust. »Was ist mit der Weberin? Gehörst du nun zu den ungezählten Einfaltspinseln, die ihren Reizen erliegen?«
Bernhard schnalzte mit der Zunge. »Hör auf damit, Anja! Ein solches Misstrauen passt weder zu dir noch zu mir. Du weißt, dass eine Frau wie Christina mich kaltlässt.«
Anja biss sich auf die Lippe. »Entschuldige, Bernhard, du hast recht. Das war dumm von mir.«
Er zog sie an sich und knabberte an ihrem Ohrläppchen. Der Anflug von Missstimmung verflog. »Nein, mir stößt bitter auf«, fuhr Bernhard fort, »dass sie von Anfang an für Unruhe in der Gemeinschaft gesorgt hat. Schon auf dem Treck hierher hat sie mit sämtlichen Männern geschäkert und ihren Ehemann gedemütigt. Dann ihr grunddummer Ausflug nach Petersburg, der uns alle zwang, auf sie zu warten. Und hier in der Kolonie wiegelt sie immer wieder die Leute auf und verbreitet Missmut, wenn sie nicht
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