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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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erging?
    Sie richtete sich auf dem Stuhl auf und blickte den Pastor an, von plötzlich aufflackerndem Starrsinn beherrscht. Was faselte er da von kochendem Blut und sündigen Gedanken? »Wir sind uns aber einig, mein Mann und ich. Unsere Ehe fußt auf einer Fehlentscheidung.«
    Ruppelin hob eine Braue. »So? Immerhin hat es gereicht, um ein Kind zu gebären. Alexandra besucht bereits die Schule, oder?«
    Christina stieß die Luft aus. Immer und immer wieder dieses Kind! Wie sehr wünschte sie, sie könnte diesem hochnäsigen, selbstgerechten Pfaffen ins Gesicht schreien, wie Alexandra entstanden war und dass sie mit Matthias nichts zu tun hatte. Aber mit einem solchen Geständnis hätte sie niemandem mehr als sich selbst geschadet. Wenn sie noch einen Funken Hoffnung auf ein besseres Leben außerhalb der Kolonie behalten wollte, musste sie dieses Geheimnis hüten bis zum Äußersten. Sollte sie als unehrenhafte Frau aus der Kolonie verstoßen werden, würde sie nirgendwo in Russland mehr ein Bein auf den Boden bekommen.
    Ruppelin räusperte sich, weil Christina in biestiges Schweigen verfiel. »Wenn es denn wirklich die Scheidung sein soll …«, begann er.
    Christina horchte auf. Mit durchgedrücktem Rücken beugte sie sich vor.
    »Ja?«
    »… werdet ihr euch beide auf den Dorfplatz vor die Kirche stellen und zehn Hiebe mit der Peitsche erhalten, bevor ihr getrennte Wege geht.«
    »Was?« Christina stützte die Hände auf das glatt polierte Holz des Schreibtischs und krallte die Nägel in die Kante. »Was sind das für barbarische Methoden?«
    Ungerührt hob Ruppelin die Schultern. »Das ist die Bedingung.«
    Sie ließ sich zurückfallen und schüttelte mit offenem Mund den Kopf, dass die Locken flogen. »Ich kann das nicht glauben«, flüsterte sie.
    »Ihr werdet nicht glauben müssen, sondern fühlen«, erwiderte Ruppelin. »Sich scheiden zu lassen, nachdem man sich vor Gott die Ehe bis zum Tod geschworen hat, ist kein Sonntagsspaziergang. Du und dein Mann sollt merken, dass ihr unrecht tut – und jeder andere in der Kolonie soll es sehen, damit sich solch unmoralisches Treiben nicht fortpflanzt.«
    Christina erhob sich so hastig, dass der Stuhl laut über den Holzboden schrammte. »Ich danke Euch, dass Ihr mich angehört habt, Pastor Ruppelin«, quetschte sie hervor. »Ich werde mich mit meinem Mann besprechen und Euch über unsere Entscheidung unterrichten.«
    Ruppelin nickte und wedelte mit der Hand zum Zeichen, dass die Audienz beendet war.
    Als die Tür des Pfarrhauses hinter Christina ins Schloss fiel und die kühle Aprilluft ihr ins Gesicht wehte, holte sie tief Luft und versuchte, ihren rasenden Puls zu beruhigen. Zehn Hiebe – wahrscheinlich überlebt man die irgendwie, aber bei dem Gedanken an die Schmerzen, die sie ertragen müsste, zog sich ihr Magen zusammen und in ihrem Mund breitete sich ein bitterer Geschmack aus.
    Nein, das würde sie gar nicht erst mit Matthias klären – möglicherweise wäre er bereit, die Prügelstrafe in Kauf zu nehmen.
    Verdammt und verflucht, dachte sie und trat gegen einen Stein, der gegen die Mauer prallte, die der Pastor um seinen Birnbaumgarten gezogen hatte.
    Sie hatte nichts dagegen, dass ein Pastor zur Kolonie gehörte – die kirchlichen Rituale gaben dem Leben im Jahresverlauf eine gewisse Ordnung, die selbst sie angesichts der ungezählten tragischen Zwischenfälle zu schätzen wusste. Aber musste es ein so sittenstrenger sein? Als würden ihr die Scheinheiligkeit und zur Schau getragene Moral der Kolonisten nicht ohnehin das Leben hinreichend vermiesen.
    Sie spürte die Missgunst der anderen, wenn sie bei den Dorffesten zu Ostern und zum Erntedank, bei Hochzeiten und Taufen mit freizügig aufgeknöpftem Mieder, das ihr herrliches Dekolleté zeigte, über die Tanzfläche wirbelte und lachte. Bei einer solchen Gelegenheit hatte sie es ein Mal, ein einziges Mal gewagt, das blaue Kleid aus Petersburg zu tragen, aber die Stimmung war gekippt, das Grölen und Lachen war in ein Tuscheln und Murmeln übergegangen, als sie in Maschas Kleid auf dem Dorfplatz erschien, und danach hatte sie darauf verzichtet, die Mitbewohner ein weiteres Mal durch ihre zur Schau gestellte Schönheit herauszufordern. Ohnehin kam sie sich inzwischen wie eine verkleidete Wolga-Bäuerin mit lederner Haut und Apfelbäckchen vor, wann immer sie die schmucke Robe vor dem Spiegel in ihrem Schlafzimmer an ihren Körper hielt. Es schien, als wäre sie dem Petersburger Leben in dieser

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