Weiße Nächte, weites Land
traf Christina mit all ihren Schilderungen auf das allergrößte Verständnis – die Geschwister brauchte sie nicht zu überzeugen, dass es sich nirgendwo angenehmer leben ließ als in Sankt Petersburg.
Nur die Sache mit dem Kind, das angeblich kurz nach der Geburt verstorben war … Christina hatte sich nicht wohl in ihrer Haut gefühlt, als Mascha bei ihrer Schilderung aufgesprungen war, um sie in die Arme zu nehmen. Die junge Russin kämpfte mit den Tränen, und ein Schamgefühl stieg in Christina auf, das ihr so gar nicht in den Kram passte.
»Es ist schon lange her, Mascha, und das Mädchen war noch klein. Ich bin jung, ich kann weitere Kinder bekommen …« Sie tätschelte Mascha den Rücken, als bräuchte diese Trost und nicht sie selbst.
Wie hatte sich Mascha doch darüber gefreut, Christina die Stadt zu zeigen und sie in den besten Modesalons der Metropole mit den edelsten Kleidern auszustaffieren. Mit so großer Freigebigkeit hatte Christina nie im Leben gerechnet. Sie fühlte sich wie eine verloren gegangene Schwester, die aus tiefster Armut heimkehrte und nun mit den feinsten Stoffen, erlesenen Köstlichkeiten und einer grenzenlosen Herzlichkeit verwöhnt wurde.
In ihren schönsten Träumen hatte sich Christina nicht ausmalen können, wie großzügig ihr die Geschwister entgegenkamen, wie sie sich selbst daran ergötzten, ihr den Himmel auf Erden zu bereiten.
Christina wagte nicht zu fragen, woher der Reichtum stammte, den die beiden weitherzig teilten, aber sie ahnte, dass sie sich um Geld nicht die geringste Sorge zu machen brauchten. Sie lebten im Überfluss und hatten ihre Freude daran, Bedürftigere wie sie daran teilhaben zu lassen.
Ihre Großzügigkeit ging so weit, dass sich sogar bei Christina das Gewissen regte.
Wie sollte sie je vergelten, was die beiden ihr boten?
Mehr noch als all die irdischen Güter, mit denen sie sie überhäuften, zählten für Christina die Lehrstunden in Etikette, die ihr Mascha mit leicht spöttischem Vergnügen erteilte.
Christina erwies sich als Musterschülerin, deren natürlicher Charme und deren Anmut nur in die richtigen Bahnen gelenkt werden mussten, um aus ihr eine in russischen Adelskreisen begehrte junge Frau zu zaubern. Sie lernte Menuett und Polka zu tanzen, sie lernte, den Fächer zart wie das Vibrieren von Schmetterlingsflügeln zu bewegen, sie lernte all die klangvollen russischen Worte, die es ihr ermöglichten, auf Banketten und Bällen mit den jungen Offizieren zu plauschen, und wo sie nicht weiterkam, genügten ihr bezauberndes Lächeln und ihr natürlich eleganter Tanzstil, um die Menschen für sich einzunehmen.
Bereits nach einem Monat entschied Mascha, dass Christina sich nicht länger zu verstecken brauchte, und führte sie als deutsche Freundin bei einem Fest auf ihrem Landsitz in die Gesellschaft ein.
Dass sie aus einer der Kolonien geflohen war, sollte sie geheim halten, hatten die Geschwister entschieden. Zwar hätte jeder Russe Verständnis für diese Entscheidung, aber es musste nicht sein, dass es der Zarin zu Ohren kam, die großen finanziellen Aufwand betrieb, um die eingeladenen Deutschen dort zu behalten, wo sie nach ihrer Meinung dem Land den größten Nutzen brachten.
In der Stadtwohnung der Geschwister teilte Christina mit Mascha das Schlafgemach, aber es erschien ihr die natürlichste Sache der Welt, in mancher schwülen Nacht, wenn das durch die seidenen Vorhänge fallende Sternenlicht das Dunkel versilberte, auf nackten Füßen zu Nikolaj zu schleichen, der sie mit einem blitzenden Lächeln und offenen Armen empfing.
Weder schenkte er ihr Leidenschaft, die ihr Blut zum Kochen brachte, noch pochte ihr Herz vor Verliebtheit, wenn er sie zu sich aufs Bett zog, aber Nikolaj verhielt sich als Liebhaber so kundig und perfekt, wie Christina es nie zuvor mit einem Mann erlebt hatte. Frauenkörper waren für ihn ein Buch, das er auswendig kannte und von dem er dennoch nie genug bekommen konnte. Sein ganzes Bestreben lag darin, sie mit wenigen Liebkosungen und Küssen dermaßen in Entzücken und bebende Erwartung zu versetzen, dass sie um Erlösung bettelte. Fast unmenschlich erschien ihr seine Liebeskunst, in deren Genuss, wie er ihr schmunzelnd ins Ohr flüsterte, die Zarin höchstpersönlich seit vielen Jahren kam. In diesem Umstand lag der besondere Reiz für Christina begründet – die Vorstellung, dass er mit der großen Katharina das Gleiche tat wie mit ihr, dass er der Zarin mit dem gleichen Eifer die Nächte
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