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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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dem Raum um. »Sagt, wo ist eigentlich Christina?«

37. Kapitel
    S osehr Klara ihre Schwester Eleonora auch liebte und verehrte, für alle Fragen, die die Liebe und die Männer betrafen, erschien sie ihr aus unerfindlichen Gründen nicht die Richtige zu sein.
    Erst seit einigen Monaten fühlte sie dieses Kitzeln, wann immer sie sich vorstellte, wie es wohl sein würde, wenn sie den ersten Kuss bekam und von wem …
    Na, von wem wohl?, schalt sie sich in Gedanken selbst. Irgendwie war es doch klar, dass es Sebastian sein würde, oder etwa nicht?
    Nie hätte es Klara damals, als sie sich auf den Weg ins Ungewisse begeben hatten, für möglich gehalten, dass es ausgerechnet einmal der gleichaltrige Junge mit der verkrüppelten Hand sein würde, der ihr lieb und teuer wie kein anderer werden sollte. Mit keinem anderen konnte sie so ausgelassen lachen, kichern und toben. Wenn er sie zufällig berührte, an ihrem nackten Arm, an ihrem Hals, dann war es, als hätte sie sich leicht verbrannt, und sie zuckte zurück. Sie spürte, dass dies jener Zustand war, den ihre Schwester »verliebt« nannte, dass sie sich aber mehr darüber freuen sollte, als sie es tat. In ihre Vorfreude auf das, was noch kommen mochte, mischte sich Todesangst wie schwarze Schlieren. Sie hatte sich zwar verboten, an ihr Erlebnis im Wald zwischen Waidbach und Büdingen, als dieser übelriechende Kerl über sie hergefallen war und ihr so weh getan hatte, noch einmal zu denken, aber die Erinnerung schwelte in ihr wie Eiterbeulen.
    Wenn ihr vorher jemand gesagt hätte, dass sie und Sebastian zusammengehören würden wie Pech und Schwefel, wenn ihr jemand gesagt hätte, dass sie ihr Glück in der Aufzucht und Pflege der Tiere finden würde – niemals hätte sie sich gegen die Umsiedelung zur Wehr gesetzt. Gewiss blickte ihre Mutter voller Stolz vom Himmel auf sie herab, wie sich Monat um Monat ihr Federvieh vermehrte, wie die Kälbchen geboren wurden und die Ziegen gemolken.
    Ob es die Mutter beglückte, dass Sebastian ihr so nahstand? Wäre sie mit einem jungen Mann wie ihm einverstanden? Er hatte nicht viel zu bieten, aber welcher junge Mann konnte das schon in der Kolonie? Er hatte die verkrüppelte Hand, die sie manchmal streichelte, aber er besaß auch diese Stärke und Zuversicht, diesen Fleiß und Mut sowie einen unermesslichen Ideenreichtum, was ihn aus Klaras Sicht vor den meisten anderen jugendlichen Dorfbewohnern auszeichnete.
    »Helmine?«
    Klara hatte an die Tür zur Hütte ihrer Base geklopft, und als keine Antwort kam, trat sie einfach ein. Ein moderiger Geruch, als wäre lange nicht gelüftet worden, empfing sie. Der Staub auf den Böden und Möbeln wirbelte in dem hereinfallenden Sonnenlicht. Noch einmal rief sie den Namen ihrer Base, doch als sie lauschte, vernahm sie nur röchelndes Atmen. Schlief Helmine etwa am helllichten Tag?
    Wenn das nur nicht ihr Mann Gregor erfuhr!
    Klara wusste, wie leicht Helmines Ehemann aus der Haut fahren konnte. Sie hatte die blauen Flecken auf Helmines Armen und Rücken gesehen und schwer geschluckt, als Helmine ihr erklärte, dass Gregor mit einem Holzscheit nach ihr geworfen habe.
    »Macht er das denn öfter?«, hatte Klara leise gefragt.
    »Nein, nein!« Helmine hatte fast empört geklungen, bevor sie ihr zuzwinkerte. »Er hat eben ein überschäumendes Temperament, weißt du. Bei anderen Gelegenheiten ist das … hm … sehr erfreulich, verstehst du?«
    Nein, das hatte Klara nicht verstanden, aber Helmine hatte nicht gezögert, ihr zu beschreiben, mit welcher Gier sie ihr Gregor beim Liebesspiel überraschte und mit welchen Raffinessen sie darauf reagierte. Und wie himmlisch sich das anfühlte.
    Klara war es bei der Schilderung abwechselnd heiß und kalt geworden. An manchen Stellen wünschte sie, der Boden täte sich auf und verschlinge sie, so schämte sie sich für das, was Helmine freizügig ausplauderte. Dabei hatte sie den Wodka, den Helmine immer wieder eingoss, während sie ihr »Weibergespräch«, wie sie es nannte, führten, vehement abgelehnt und am Ende sogar die Hand über den Becher gehalten, damit Helmine ihr nichts ins Wasser kippte.
    Zwar glühten Klaras Ohren, wann immer Helmine sie in die Geheimnisse der Erwachsenen einführte, aber sie fand die Erzählungen ihrer Base spannender als das milde Lächeln ihrer Schwester. Was würde Helmine wohl sagen, wenn sie ihr erzählte, wie sehr sie sich auf den ersten Kuss von Sebastian freute?
    Genau das wollte Klara heute mit ihr

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