Weiße Nächte, weites Land
diesem Abend war sie gemeinsam mit Mascha und Nikolaj zum kaiserlichen Ball geladen, und die beiden Frauen taten seit zwei Tagen nichts anderes, als sich um Garderobe und Frisuren, Schmuck und Schminke zu sorgen. Christina fiel allerdings auf, dass Mascha mehr Zeit damit verbrachte, sie herauszuputzen als sich selbst. Es schien ihr größere Freude zu bereiten, sich um das Wohl anderer zu sorgen als um ihr eigenes.
»Gibt es eigentlich keinen Mann, der dir nahesteht?«, wagte Christina zu fragen, nachdem sie vorsichtig auf der Chaiselongue im Ankleidezimmer Platz genommen hatte und Mascha beobachtete, die in ihr silbergraues, schlicht geschnittenes Ballkleid stieg. Christina erhob sich wieder, um ihr beim Schnüren zu helfen.
»Ich … ich brauche keinen Mann«, sagte Mascha und lachte wie über einen Scherz, aber Christina ahnte, dass es die Wahrheit war.
Dass die junge Russin hier mit ihrem Bruder wohnte, erschien ihr wie eine Fassade, hinter der sich Mascha in ihrer Selbständigkeit und Freiheitsliebe verstecken konnte. Sie ging auf in ihrem Studium der Künste an der Petersburger Akademie, wo ihr fundierte Kenntnisse im Zeichnen, Malen und Modellieren, in der Anatomie und der Perspektive vermittelt wurden. Anders als ihre Kommilitonen beabsichtigte Mascha nicht, später ihr Studium im Ausland, vornehmlich Italien, fortzusetzen, sondern wollte ihrerseits die jungen Studenten unterrichten. Es passte zu ihrer Wesensart, fand Christina. Genauso wie Mascha sie unter ihre Fittiche nahm, wollte sie den jungen Künstlern bei den ersten Schritten in die akademische Welt helfen.
Christina verstand nicht, wie man sein Leben auf diesen Säulen aufbauen konnte, sie begriff die Leidenschaft nicht, mit der Mascha von ihren Werken und den Ausstellungen in den Hallen der Akademie erzählte, aber sie begriff, dass Mascha ihre eigenen Ziele mit nicht weniger Willenskraft verfolgte als sie die ihren.
Bei jedem Spaziergang durch die Stadt hatte Christina dafür gesorgt, zum Abschluss einen Blick auf den riesenhaften Zarenpalast an der Newa werfen zu können. Vom Ufer aus betrachtet verschmolz das Bauwerk mit der Stadt. Aber Christina wusste, dass sich hinter den hohen Mauern und spiegelnden Fenstern eine eigene Stadt befand. Und wenn es Nacht wurde, gingen in der Welt der Zarin tausend Sonnen auf.
Ende September hatte die Hofgesellschaft die Sommersitze in Oranienbaum und Zarskoje Selo verlassen, um in Sankt Petersburg den Winter zu verbringen. Nun, im November, war der erste Schnee bereits gefallen, die Newa lag unter einer dünnen Eisdecke. In den kaiserlichen Wagenremisen wurden die Gefährte bereits für die Schlittenfahrten hergerichtet.
Wie oft hatte sie sich erträumt, einmal Gast im Palast zu sein, einmal Teil dieser funkelnden Welt des Hochadels mit all den Kerzenleuchtern und Spiegeln, Lüstern und Brillanten zu sein.
Nikolaj hatte wegen ihrer verträumten Miene stets geschmunzelt, den Arm um sie gelegt und ihr ins Ohr geflüstert: »Du willst hoch hinaus, nicht wahr?«
Christina hatte sich lachend aus seinen Armen gewunden. »Ja, ich will zu den Sternen reisen.«
Heute nun war es so weit: Ihr erster Ball am Zarenhof.
Nikolaj in seiner weißen Offiziersuniform mit den blinkenden Knöpfen war ein Bild von einem Mann, aber die Blicke der Gäste galten den Frauen rechts und links von ihm, seiner dunkelhaarigen Schwester im silberdurchwirkten Kleid und der geheimnisvollen blonden Deutschen, deren Lächeln mit den Kronleuchtern um die Wette funkelte.
»Sie werden sich die Mäuler über dich zerreißen«, hatte Mascha ihr angekündigt. »Leg dir lieber gleich ein dickeres Fell als den Fuchspelz an deinem Cape zu.«
Christina hatte gelächelt und das Kinn in einem plötzlichen Anflug von Hochmut gehoben. »Ich kenne es nicht anders. Es gibt Schlimmeres, als den Klatsch und Tratsch der russischen Hofgesellschaft zu bereichern.«
Mascha hatte mitfühlend ihren Arm gedrückt, denn Christina hatte bei ihren ausgeschmückten Erzählungen kaum ein gutes Haar an den Kolonisten gelassen.
Nun war sie dankbar, dass ihr erstes Auftreten am Hof nicht im Rahmen eines der zahlreichen Maskenbälle stattfand, die um diese Jahreszeit gefeiert wurden. Nein, sie wollte sich nicht verkleiden oder ihr Gesicht verhüllen – sie wollte in all ihrer Schönheit und Anmut gesehen werden, doch sollte ihren Augen dabei nichts entgehen, und ihre Ohren waren gespitzt.
Sie wollte herausfinden, mit wem es sich lohnte, nähere Bekanntschaft zu
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