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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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und rannte nach Hause, als wäre der Teufel hinter ihr her.

38. Kapitel
    Sankt Petersburg, November 1772
    C hristinas Hand mit den polierten, sorgsam gefeilten Nägeln schwebte über der Silberschale mit dem Marzipankonfekt, die eine der Bediensteten auf den Toilettentisch gestellt hatte. Endlich entschied sie sich für eine mit filigranen Rosenblättern verzierte Praline, pickte sie mit spitzen Fingern heraus und führte sie sich zum Mund. Genießerisch schloss sie die Augen, während sie kaute.
    »Wenn du weiter so viel isst, werden wir dich im nächsten Herbst erneut einkleiden müssen, weil deine Garderobe aus allen Nähten platzt«, bemerkte Mascha, die mit langen Bürstenstrichen Christinas blonde Locken bearbeitete, bis sie schimmerten wie gesponnenes Gold.
    »Au, nicht so grob, Mascha!«, beschwerte sich Christina mit vollen Backen.
    »Wer schön sein will, muss leiden«, erwiderte Mascha mit kühlem Lächeln.
    »Glaub mir, bei all dem Leid, das mir widerfahren ist, hatte ich mit meiner Schönheit wahrlich nichts im Sinn«, gab Christina zurück und zwinkerte Mascha im silbern umrahmten Spiegel zu.
    Maschas Miene blieb ernst. »Ein Wunder, dass du bei alldem deinen Frohsinn nicht verloren hast«, sagte sie leise. »Was kann einem Schlimmeres widerfahren, als das eigene Kind zu verlieren. Das muss eine entsetzliche Zeit für dich gewesen sein, du Ärmste.«
    Christina sah im Spiegel, wie sich ihre Wangen rosa verfärbten, obwohl sie noch gar kein Rouge aufgetragen hatte. Eine Ader pochte an ihrer Schläfe, ihr Herzschlag kam aus dem Takt.
    Dass Mascha immer und immer wieder genau dieses Thema anschnitt!
    Immerhin die einzige echte Lüge, die sie dem Geschwisterpaar aufgetischt hatte, als sie im Sommer plötzlich vor der Tür zu dessen Wohnung am Newski-Prospekt gestanden hatte.
    In einer vierspännigen Kutsche war sie mit den mundfaulen Brüdern der Sarepta-Kolonie zügig durch das Land gereist, und dennoch hatte das wochenlange Gerüttel sie bis ins Mark erschöpft. Moskau hatten sie in weitem Bogen umfahren. Christinas Herz glich auf diesem Umweg einer offenen Wunde, die nicht aufhören wollte zu bluten, aber je weiter sie Richtung Norden kamen, desto merklicher verging der Schmerz und machte der Vorfreude auf das, was sie in Sankt Petersburg erwarten mochte, Platz.
    In ihrem letzten Quartier bei Nowgorod gab sie sich, obwohl die Brüder zur Eile mahnten, beträchtliche Mühe mit ihrem äußeren Erscheinungsbild, flocht die Haare zu einem kunstvollen Kranz, tupfte sich Rouge auf die Wangen und puderte die bleiche Nase. Das blaue Kleid zog sie andächtig aus ihrem Bündel und plättete es sorgfältig Falte um Falte, bevor sie es überstreifte. Ganz bestimmt wollte sie bei ihrem ersten Wiedersehen mit Nikolaj nicht aussehen wie eine plumpe Bäuerin nach getaner Feldarbeit.
    Christina war sich sicher, dass Nikolaj sie in den sechs Jahren seit ihrer letzten Begegnung nicht vergessen hatte, aber die Reaktion seiner Schwester war schwer einzuschätzen.
    Was würden die beiden erst sagen, wenn sie sie darum bat, vorübergehend bei ihnen wohnen zu dürfen, bis sie etwas Eigenes gefunden hatte?
    Und wenn sie ihr Ansinnen rundheraus ablehnten?
    Die Russen galten zwar generell als gastfreundlich, aber erschien ein solches Ansinnen nicht jedem wie eine uferlose Dreistigkeit?
    Christina war sich durchaus bewusst, auf welch kühnes Wagnis sie sich da einließ, aber sie war wild entschlossen, von nun an ihren eigenen Weg zu gehen und niemals mehr wieder in die Steppen an der Wolga zurückzukehren. Wenn die Geschwister ihr die Tür vor der Nase zuschlugen, würde sie eben ihr gespartes Geld für einige Nächte in einer Herberge ausgeben und diese Zeit nutzen, um ihre Verwandten zu finden. Die hatten doch die moralische Verpflichtung, ihr zu helfen, fand Christina.
    Aber so weit kam es gar nicht, weil sowohl Mascha als auch Nikolaj Christina freudig in die Arme schlossen, als sie unvermittelt vor ihnen stand.
    Nach den Umarmungen kamen die unvermeidlichen Fragen, die kein Ende zu nehmen schienen, aber während der Fahrt mit den schweigsamen Geistlichen hatte Christina mehr als genug Zeit gehabt, sich alles zurechtzulegen.
    Im Grunde brauchte sie von der Wahrheit nicht weit abzurücken: dass sie es in der Kolonie nicht ausgehalten hatte, dass das Leben dort nicht ihrem Stil entsprach, dass sie von den anderen nicht gut gelitten wurde, dass keine Nacht verging, in der sie nicht von Petersburg träumte.
    Bei Nikolaj und Mascha

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