Weiße Nächte, weites Land
machen, und sie wollte die großspurigen Aufschneider genauso penibel aussortieren wie die Trunkenbolde und Weiberhelden.
Sie hatte tatsächlich das Gefühl, die Zeit laufe ihr davon. Sie verlor nicht nur mit jedem Tag ein Stück ihrer jugendlichen Anziehungskraft, sie wusste auch, dass ihre Rolle als Protegée des steinreichen Offiziers und seiner Schwester ihr kein Auskommen auf Lebenszeit sicherte. Für sie waren Nikolaj und Mascha die Menschen, die ihr die Tür zur russischen Gesellschaft aufstießen – wie und wann sie hindurchschritt und was sie daraus machte, das lag allein an ihr.
Auf dem Tanzparkett drehten sich die Paare bereits in den eleganten Figuren des Menuetts, Seidenröcke raschelten, Absätze klapperten auf dem glänzenden Boden im Tripeltakt. Das Lachen der Damen perlte, das Gemurmel der Herren nahm an Lautstärke in dem Maße zu, wie dem blutroten, glitzernden Ungarwein und dem Champagner in funkelnden hohen Gläsern zugesprochen wurde.
Nikolaj führte Christina und Mascha von einer plaudernden Gruppe zur nächsten und stellte seinen deutschen Gast all seinen Freunden und adeligen Verwandten vor.
Christina war bemüht, sich das Staunen ob des allgegenwärtigen Pomps und Prunks, des Goldschmucks und der Brillanten nicht anmerken zu lassen. Bloß nicht als das unbedarfte Bauernmädchen enttarnt werden, das sie vor wenigen Monaten noch war!
Doch war sie ein solches wirklich jemals gewesen? War dies hier nicht die Welt, die zu ihr passte und in die sie gehörte, als wäre sie in sie hineingeboren?
Hatte sie nicht damals in Hessen schon das Gefühl beschlichen, dass in ihren Adern ein anderes Blut floss als in denen der übrigen Dorffrauen und ihrer Schwestern?
Während sie an ihrem Weinkelch nippte, durch einen schwarzen Fächer von Wimpern blickte und der Jagdgeschichte eines Mannes lauschte, den Nikolaj ihr als seinen Onkel vorgestellt hatte, nahm sie aus den Augenwinkeln wahr, was um sie herum geschah: wie eine der Debütantinnen von einem schneidigen Kavalier zum Tanz geholt wurde, wie die älteren Damen mit den weißgepuderten Wangen und den wogenden Busen die Köpfe zusammensteckten, bis sich fast ihre Ohrgehänge miteinander verhakten, wie eine Gruppe von Offizieren zu ihnen herüberschielte, bis einer von ihnen einen Toast aussprach, wie die Bediensteten unermüdlich mit den alkoholischen Getränken, kunstvoll arrangiertem Konfekt und Mokka in zierlichen Tassen durch die Reihen balancierten.
Die Luft war erfüllt von dem schweren Moschusduft, den die älteren Damen aufgetragen hatten, den süßlichen Blumenaromen der jüngeren Frauen, von Lavendel und Rosenwasser, vom Rauch der Kaminöfen, vom Schweißgeruch der unermüdlich Tanzenden. Immer lauter lachten die Gäste, immer häufiger wurden die Gläser gehoben, und aus den benachbarten Zimmern drang das Lärmen und Rufen der Offiziere, die sich um die Spieltische versammelt hatten.
»Wann kommt die Zarin?«, flüsterte Christina Nikolaj zu, als der Onkel seine Aufmerksamkeit einer Dame in einer blauen Atlasrobe zuwandte.
»Sie kommt leider gar nicht«, erwiderte Nikolaj mit bedauernder Miene. »Ich habe gerade erfahren, dass sie sich unpässlich in ihre Privatgemächer zurückgezogen hat. Wahrscheinlich bereitet ihr der Krieg gegen die Türken wieder einmal Kopfzerbrechen.«
»Ach, wie ärgerlich.« Christinas Herz sank. So sehr hatte sie sich darauf gefreut, in einen unter Maschas belustigten Blicken perfekt einstudierten, tiefen Hofknicks vor der großen Katharina zu fallen und ihr mit den russischen Sätzen, die sie sich ehrgeizig beigebracht hatte, zu Gefallen zu sein, bevor sie wie zufällig ins Deutsche fiel, um ihr errötend zu gestehen, eine Landsmännin zu sein. Ganz gewiss hätte sich daraus eine Plauderei ergeben, die der Zarin vielleicht in Erinnerung geblieben wäre.
Nikolaj schmunzelte, als er Christinas enttäuschte Miene sah. »Täubchen, du wirst noch reichlich Gelegenheit haben, mit der Zarin zu speisen und zu parlieren. Ich verspreche es dir.«
Standen ihr die Gedanken so deutlich ins Gesicht geschrieben? Christina bemühte sich, wieder Gelassenheit in ihre verräterischen Züge zu bringen.
Nikolaj warf einen Blick zu Mascha, die sich angeregt mit drei Frauen unterhielt, bevor er sich zu Christina beugte. »Komm mit, ich stelle dir ganz besonders liebe Freunde vor. Ihnen gegenüber brauchst du dich nicht trotz deines bezaubernden deutschen Akzents mit Russisch abzumühen, obwohl ich zugeben muss, dass du es
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