Weiße Nächte, weites Land
Trave ist nicht an allen Stellen tief genug. Mit Schlammmühlen versucht man hier, Mulden unter Wasser zu graben, damit sich die Schiffe nicht festfahren. Manche müssen ihre Fracht bereits in Travemünde löschen. Vielleicht werden wir erst mit einem Boot bis zur Mündung in die Ostsee gebracht, wo unser Schiff dann auf uns wartet …« Er versuchte ein zuversichtliches Lächeln. »Aber wenn wir auf offener See sind, gibt es kein Halten mehr für uns.«
Eleonora seufzte leise. »Hoffentlich steht der Wind günstig. Ich kann mir gar nicht vorstellen, so lange ohne festen Boden unter den Füßen zu sein …«
»Wer von uns kann das schon? Aber wir sind nicht die Ersten, und es geht in der Regel gut.« Er grinste auf sie herab. Sie lächelte.
Eine überaus schöne Frau, ging es ihm durch den Sinn. Es hatte ihm schwer imponiert, mit welcher Ausdauer und Zähigkeit sie sich bis hierher durchgebissen hatte – und dies nicht nur mit der achtjährigen Schwester im Schlepptau, die immer wieder ins Jammern verfallen war, sondern auch noch mit einem Kleinkind. Für Sophia hatte ihre Mutter in dem Fuhrwagen eine Ecke mit Kissen und Laken ausgepolstert. Darüber hatte sie aus Holzstöcken und starkem Linnen eine Art Dach gebaut, so dass das Kind vor Sonne und Regen geschützt war. An einem Band baumelten ein paar Glöckchen, die im Wind klimperten. Alle paar Tage überraschte sie die Kleine mit einem neuen Spielzeug, einem Kästchen mit Steinen oder einer Holzperlenkette. Aber am liebsten waren dem Mädchen das Stoffmännlein und die Stoffpuppe, die Eleonora geschneidert hatte. Wenn Sophia nicht spielte, kaute sie auf einem trockenen Stück Brot herum oder schlief – kein Wunder, dass sie von allen Kindern des Trecks das zufriedenste war. Einige der Bauern ließen ihren Nachwuchs so lange schreien, bis kein Pieps mehr kam und die Kinder in fiebrige Erschöpfung fielen. Manchem von den ganz kleinen hatten sie am Wegesrand ein Grab schaufeln müssen.
»Wie ist es deiner Mutter ergangen?«, erkundigte sich Eleonora und wischte sich die Haarsträhnen, die der salzige Wind über ihre Stirn wehte, zur Seite. Ein paar Möwen kreischten über ihnen, als ein Zweimaster einlief, dem der durchdringende Geruch nach Hering vorauswehte. Er wurde bereits von einer Handvoll Arbeiter erwartet, die mit schweißglänzenden, vor der behaarten Brust verschränkten Armen dem Fischkutter entgegenstarrten.
Bernhard schürzte die Lippen und nickte ein paarmal. »Gut, denke ich. Ihre Füße sind aufgescheuert, natürlich, wie die der meisten, aber sie hat den Marsch überstanden.« Dass der Vorrat an Branntwein, den sie mitgenommen hatten, schon nach wenigen Tagen aufgebraucht war und danach ein guter Teil ihrer Anstrengungen dafür draufging, von irgendwoher für Nachschub zu sorgen, behielt er für sich.
Möglich, dass ohnehin alle wussten, wie schlimm es um Marliese bestellt war, aber das änderte nichts daran, dass ihn das Thema unangenehm berührte. »Wie hast du als Witwe das Kommissariat überzeugt?«, fragte er, um von seiner Familie abzulenken.
Eleonora lachte. »Das war nicht so schwierig, wie uns vorher glauben gemacht wurde. Es reichte vollends, dass ich mich Christina und Matthias anschloss – wir gehen mit Klara und Sophia als Großfamilie durch.«
»Hättest dir ja trotzdem einen Mann suchen können«, murmelte Bernhard und betrachtete Sophia, die zu Eleonoras Füßen aus einem Haufen Kieselsteine eine Straße baute. »Bewerber gab es doch sicherlich zuhauf.«
Eleonora zuckte die Schultern. Über ihre schönen Augen legte sich ein Schleier. »Und du? Du verzichtest ebenfalls auf den Bonus für Verheiratete?«
Bernhard spähte über die Trave, beobachtete, wie die Matrosen des Zweimasters Fässer voller Heringe über die Planken rollten. »Auch wir sind als Großfamilie gelistet.«
Bernhard hätte in Waidbach und den umliegenden Dörfern keine gewusst, die er zur Frau nehmen wollte. Sicher, eine wie Eleonora … Mit einem solchen Schmuckstück konnte sich ein Mann schon brüsten. Aber darauf kam es Bernhard nicht an. Er nahm durchaus die Reize der Weberin wahr und hatte auch in den vergangenen Jahren die eine oder andere willige Magd nicht abgewiesen, die sich ihm anbot … Aber wenn es ans Heiraten ging … Er konnte nicht benennen, was genau er nun an einer Frau suchte, aber ihm war klar, dass es mehr sein musste als ein hübsches Lärvchen. Er brauchte eine, die ihm etwas entgegenzusetzen hatte, eine, in der ein
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