Weiße Nächte, weites Land
kennzeichnete. Die russischen Offiziere – des Deutschen nur in geringem Maße mächtig – hatten alle Hände voll zu tun, die Hysterie einzudämmen.
Bernhard tat gemeinsam mit dem Knecht Matthias Lorenz und der Apothekerstochter Anja sein Bestes, die Leute zu beruhigen. Ein solcher Frevel sei überhaupt nicht denkbar. Hätte man nicht gebrandmarkten Rückkehrern begegnen müssen, wenn an der Schreckensnachricht auch nur ein Körnchen Wahrheit wäre?
Sie waren tief erschöpft, als ihre Mahnungen zur Besonnenheit am Abend endlich Wirkung zeigten und das Geschrei allmählich abebbte, erinnerte sich Bernhard, als er nun müde, aber zufrieden über die Trave schaute.
»He, Bernhard, Helmine, habt ihr schon Quartier bezogen?«
Die beiden wandten den Kopf, als sich vom Lübecker Marktplatz her die Weber-Schwestern näherten.
Christina winkte und strahlte. Die strapaziöse Reise schien sie kaum belastet zu haben. Kein Wunder, dachte Bernhard, zum einen war sie eine kerngesunde junge Frau, zum anderen mochte ihr die Liebe zu ihrem frisch angetrauten Ehemann Matthias innere Kraft verleihen.
Nur ein paar hellbraune Flecke in ihrem ansonsten blassen Gesicht zeigten, dass die vergangenen Wochen an ihr nicht spurlos vorübergegangen waren. Einige Male hatte er beobachtet, wie sie sich am Wegesrand übergeben hatte – aber wen wunderte das? Niemand von ihnen hatte jemals zuvor einen Sechzig-Meilen-Marsch bewältigt. Wer im Dorf aufgewachsen war, der hatte gewöhnlich nicht einmal Kassel oder Frankfurt gesehen. Man pendelte zwischen Büdingen und Waidbach hin und her und fühlte sich fest verwurzelt in den heimischen Gefilden. Fast vier Wochen lang täglich auf den Beinen zu sein und bei Sturm und Regen, bei brennender Nachmittagssonne und dichtem Morgennebel einen schmatzenden Schritt vor den anderen durch teils knietiefen Schlamm zu setzen … Glücklich derjenige, der wie Christina nur mit gelegentlicher Übelkeit und fleckiger Gesichtsfarbe davonkam.
»Nun, wir sind genau wie die meisten in der Barackensiedlung vor dem Holstein-Tor untergebracht, die uns der Kaufmann Schmidt zugewiesen hat«, erwiderte Bernhard, als Christina, Eleonora mit Sophia und Klara vor ihnen standen.
Klara stemmte die Hände in die Hüften. »Das Meer habe ich mir viel größer vorgestellt. Ich dachte, es geht bis zum Horizont.«
»Du Dummerle!«, rief Helmine und zwickte sie in die sommersprossige Wange. »Das ist doch die Trave! Von hier aus fährt unser Schiff tagelang, bis es auf dem offenen Meer ist!«
Klaras Gesicht lief rot an. Bernhard grinste. Helmine nahm ihre jüngere Base an die Hand und lief mit ihr am Kai entlang zu einem der Schiffe, die gerade entladen wurden. Seeleute warfen verschnürte Packen über die Reling, die auf dem Pier von breitschultrigen Hafenarbeitern mit lautem »He!« und »Hopp!« aufgefangen und gestapelt wurden.
»Seid vorsichtig!«, rief Bernhard den Mädchen nach. »Dass ihr nicht ins Wasser fallt!«
»Ganz schön gefährlich hier«, murmelte Eleonora, ließ Sophia von ihrem Arm zu Boden gleiten, behielt aber ihre Hand in der ihren. Das Ufer der Trave war nur mit Holzpfählen befestigt.
»Kein Ort für Kinder«, bestätigte Bernhard, während sich Christina mit leuchtenden Augen nach rechts und links wandte, als wollte sie alle Eindrücke aufsaugen wie ein trockener Schwamm. Übermütig winkte sie einem jungen Mann zu, der im Mastkorb eines Dreimasters die Aussicht genoss wie auf dem Logenplatz eines Theaters. Der Fremde erwiderte den Gruß nicht weniger schwungvoll.
Christina wiegte sich in den Hüften und ließ ihren Rock schwingen, ohne den Blick von dem sonnenblonden Matrosen, oder was er sein mochte, zu wenden. »Ich geh mal ein Stück«, warf sie ihrer Schwester und Bernhard hin und spazierte los wie eine flanierende Edeldame, als hätte sie sich in den letzten Wochen nicht ausgiebig genug die Beine vertreten.
»Wie lange werden wir hier warten müssen, Bernhard?« Eleonoras Nase stach spitz aus ihrem ebenmäßigen Gesicht hervor. Die schwarzen Haare, die in Strähnen um ihr Gesicht hingen, wirkten stumpf. Unter ihrem zerrissenen, vor Schmutz starrenden Kleid lugten nackte, schmutzige Füße hervor, deren Zehen mit Leinenstreifen umwickelt waren.
»Vielleicht drei Tage, vielleicht eine Woche … Du siehst ja, wie schmal der Hafen hier ist. Wir müssen abwarten, bis das Reiseschiff einfahren darf. Kein leichtes Unterfangen. Das Schiff ist hochseetauglich, liegt schwer im Wasser, und die
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