Weiße Nächte, weites Land
vertrauliches Tuscheln: »Dass ich mir keine Fesseln anlegen lasse als Ehefrau, das geht die Herren Kommissare und die russische Zarin einen feuchten Kehricht an. Hauptsache, ich habe die Bescheinigung und genieße die Vorteile – alles andere gestalte ich nach meinem Gefallen.«
»Und nach dem von Matthias«, fügte Eleonora hinzu.
Christina zuckte die Schultern. »Das wird sich zeigen. Er scheint mir keiner zu sein, der andere in ihrem Tun einschränkt.« Sie zwinkerte der Schwester zu. »Auch einer der Gründe, warum ich ihn für die beste Wahl halte.« Eleonora vermochte in ihr Kichern nicht einzustimmen. Wie feine Nadelstiche schmerzte es in ihrer Brust. Empfand sie Mitgefühl mit dem liebenswerten Matthias, den ihre Schwester in diese Ehe hineinmanövriert hatte? Unbewusst fasste sie an ihren rechten Ringfinger und drehte den Reif, als wollte sie beschwören und sich versichern, wofür ihr Herz schlug.
Mit welchen Tricks mochte Christina diese Verlobung übers Knie gebrochen haben? Sie brauchte nicht lange zu rätseln.
Eine fleckige Röte flammte auf Christinas Hals und Dekolleté auf. Die folgenden Worte kamen weniger leichtherzig über ihre Lippen. »Nun, zugegebenermaßen sind meine Reize nicht die einzigen Beweggründe für Matthias, sich mit mir zu vermählen.«
Eleonora hob eine Braue. Klara war inzwischen zurückgekehrt, kauerte sich neben Eleonora und hielt sich an ihren Knien fest, während sie Christina lauschte.
Christina fuhr fort: »Auf dem Weg nach Büdingen hat sein Bruder Franz ziemlich große Reden geschwungen … Du kennst ihn, ein Maulheld einerseits, aber«, fügte sie eiligst hinzu, »auch kein schlechter Kerl, beileibe nicht! Er wird ein tüchtiger Bauer werden, da bin ich ganz sicher. Er stellt was dar mit seiner breiten Statur und seinen blitzenden Augen, findest du nicht?«
Eleonora antwortete nicht. Ihr schwante Übles.
»Nun, Franz hat vor aller Ohren verkündet, dass er beabsichtigt, dich zur Frau zu nehmen. Das Kind sei kein Hindernis, und dass du bereits verheiratet warst, ändere nichts daran, dass er dich für die schönste Frau in Hessen halte. Er meinte, bei einem Weib wie dir müsse man rechtzeitig zupacken, bevor die Russen sich ins Zeug legen. Es sei ihm eine Ehre, dich zum Traualtar zu führen …«
Eleonora hob eine Hand. Ihr war, als löse sich eine Nebelwand auf, aber was sie sah, verursachte ihr Magendrücken. »Du hast also mit den Lorenz-Brüdern ausgehandelt, dass wir uns miteinander vermählen – zwei Brüder nehmen zwei Schwestern, weil’s gerade hübsch passt?«
Christina nickte, ein argloses Lächeln im Gesicht. »Ja, so ungefähr. Die Veronica hat ihren Brüdern gut zugeredet – sie hält große Stücke auf uns, nun, besonders auf dich, möchte ich sagen.« Sie kicherte wieder.
Eleonora rückte ein Stück von der Schwester ab. Sophia kletterte aus der Kiste und lief auf sie zu. »Komm her, Püppchen!« Eleonora hob sie hoch, setzte sie auf ihren Schoß, strich ihr die Haare zärtlich aus dem Gesicht.
»Was wirst du tun?«, fragte Klara mit tonloser Stimme.
»Im Kommissariat hat Franz lauthals erklärt«, fuhr Christina im Plauderton fort, »dass er gleich morgen seine Braut präsentieren wird. Er will heute noch vorbeikommen, Eleonora, und um deine Hand anhalten.« Christina wurde ernst, als bemühe sie sich um eine gewisse Feierlichkeit, und legte die Finger auf die Schulter ihrer Schwester. »Wirst du seine Bitte erhören? Etwas Besseres kann dir … kann uns nicht passieren, als mit zwei starken Kerlen an der Seite in unser neues Leben aufzubrechen.«
Eleonora vernahm die eindringlichen Worte ihrer Schwester, aber alles, was ihr in den Sinn kam, war: Wann hört sie endlich auf? Ihre Worte rattern und rattern wie die Fuhrwerke auf der Dorfstraße.
Alles schien Christina perfekt eingefädelt zu haben, alles bis zum Letzten organisiert und durchdacht.
Ja, Eleonora hatte ihre Zustimmung zu der Ausreise gegeben. Und ja, sie überließ Christina nur zu gern das Pläneschmieden. Aber dieses Marionettenspiel, bei dem Christina die Fäden zu ziehen gedachte – das ging zu weit.
Denn eines hatte sie mit ihrer Willenskraft und Abenteuerlust, in ihrer Lebensgier und Selbstverliebtheit nicht bedacht: Eleonora hatte ihre eigenen Träume.
Buch 2: Der Weg
März bis Oktober 1766
Von Büdingen nach Saratow
9. Kapitel
Lübeck, April 1766
O h, das Meer habe ich mir viel größer vorgestellt! Man kann die Häuser auf der anderen Seite sehen!«
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