Weiße Nächte, weites Land
Strahlen im Gesicht, vor Lebenskraft strotzend.
Mit einer Hand hielt er sich fest, mit der anderen beschattete er die Augen. Zum wiederholten Mal schaute er in Christinas Richtung – offenbar aufmerksam auf sie geworden, da sie ihn von unten unablässig beobachtete. Er hob wieder einen Arm und gab ihr mit Zeichen zu verstehen, dass er hinunterkommen würde und sie warten solle.
Nichts tat Christina lieber als das. Selbst aus der Entfernung übte dieser Fremde eine Faszination auf sie aus, der sie sich nicht entziehen konnte.
Er war hübsch, ja, aber es gab viele hübsche Männer in ihrer Nähe. Auch Matthias, ihr Mann, sah gut aus, aber was gäbe sie darum, wenn er nur einen Bruchteil der Lebensfreude dieses Blondschopfs versprühen würde. Kaum einmal hatte sie auf dem langen Marsch hierher ihren Mann lächeln gesehen, meist grübelte er vor sich hin und unterhielt sich ernst mit Bernhard oder Anja, ohne sie – seine junge Frau – zu beachten. Nachts hatte er nie nach ihr getastet oder sie gar berührt. Er hatte ihr den Rücken zugewandt und geschnarcht.
War es Feigheit oder Schlappheit? Dass sie ihm nicht gefallen könnte, schloss Christina aus. Ein solcher Mann war noch nicht geboren.
Nun, vielleicht raubte ihm die Anstrengung der Reise die Kraft. Auf dem Schiff würde sich schon Gelegenheit ergeben, die Freuden der Ehe zu genießen.
Es erschien Christina viel zu lange her, dass ein Mann sie zuletzt mit heißen Händen angefasst hatte – ihr Blut siedete, wenn sie nur daran dachte.
Der Fremde hangelte sich über die Strickleiter aufs Deck herab. Seine Schritte über den Bretterboden waren schwungvoll, ganz so, als wäre er es gewohnt, im Laufschritt unterwegs zu sein, um nichts zu verpassen von dem, was das Leben ihm zu bieten hatte.
Ein bulliger Matrose versperrte ihm den Weg und schüttelte auffordernd eine Büchse. Der Fremde, der offenbar unerlaubt das Schiff betreten hatte, warf eine Handvoll Münzen hinein und schlenderte mit einem Kopfnicken um den Schmarotzer herum, der sich, überrascht von der großzügigen Geste, mit einer Verbeugung von ihm verabschiedete. »Ihr könnt zehnmal wiederkommen, Herr!«, rief ihm der Seemann nach.
Also habe ich richtig vermutet, ging es Christina durch den Sinn – kein Seefahrer. Sie richtete sich auf und straffte die Schultern, als der Mann nun mit einer galanten Verbeugung vor sie trat. Er fasste ihre Finger wie die einer Königin und beugte die Lippen darüber. »Gestattet, dass ich mich vorstelle, schöne Frau«, sagte er. »Man nennt mich Daniel Meister, Zeugmachergeselle aus Berlin auf der Wanderschaft.«
Sie knickste. »Christina … Lorenz aus Büdingen.« Nur widerwillig kam ihr der neue Familienname über die Lippen. Besonders diesem gutaussehenden Mann gegenüber. »Verzeiht, wenn ich Euch bei Euren Beobachtungen gestört habe …«
Der Handwerksgeselle lachte – ein tiefes, angenehmes Lachen, das Christinas Herzschlag aus dem Takt brachte. »Ich hätte mir keine angenehmere Abwechslung vorstellen können, als Euch kennenzulernen«, erwiderte er charmant. »Ich hoffe, Euch haben kurzweilige Verpflichtungen in diese herrliche Hafenstadt getrieben?«
»Das will ich hoffen«, sagte sie. »Wir sind in einem Treck aus unserem Dorf losgezogen, um von hier aus nach Sankt Petersburg einzuschiffen.«
»Oh, wirklich?« Daniel Meister fasste sich mit grüblerischer Miene ans Kinn. »Man hört, dass die große Katharina allen Einwanderern paradiesische Verhältnisse verspricht.«
»Darauf hoffen wir«, erwiderte Christina. »Es kann nur besser werden als daheim.«
»Ihr müsst mir mehr davon erzählen. Lasst uns ein Stück am Ufer spazieren!« Er bot ihr den Arm, sie hängte sich ein. Dabei fiel sein Blick auf ihre nackten, schmutzigen Füße.
Christina fuhr sich verlegen mit dem Zeigefinger an die Lippen. »Verzeiht, wir sind erst vor wenigen Stunden angekommen. Ich hatte keine Gelegenheit zur Toilette. Neue Schuhe brauche ich auch …«
»Dafür seid Ihr aber noch gut zu Fuß«, erwiderte er mit einem Grinsen und tätschelte ihre Hand, die sie in seine Armbeuge gelegt hatte.
Ein paar Schritte spazierten sie schweigend. Majestätisch glitt ein Zweimaster in den Hafen, die eingeholten Segel flatterten zwischen den Tauen. Über den Köpfen der beiden schwebte ein Storchenpaar und landete präzise in dem Nest auf dem Kamin eines Wirtshauses an der Uferstraße.
Ohne Umschweife und Scheu, als wären sie seit Jahren Vertraute, begann Daniel zu
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