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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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Helmine Röhrich stand die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben, als sie im Hafen von Lübeck an den Kai trat.
    Ihr Bruder Bernhard neben ihr hielt das Lederband im Mund, während er die Haare zusammenraffte, um sie im Nacken neu zu binden. Schließlich streckte der Flickschuster wohlig die langen Glieder und rieb sich die verspannten Schultern. »Das ist noch nicht das Meer, Helmine. Das ist die Trave, der Fluss, der sich durch Lübeck bis zur Ostsee schlängelt.«
    »Wann gehen wir an Bord?« Helmine musste den Kopf in den Nacken legen, um zu ihm aufzusehen. Die frische Brise trug den Geruch nach Fisch und Seetang mit sich und spielte mit Locken, die sich aus ihrem geflochtenen weißblonden Haarkranz gelöst hatten. Ihr farbloses Gesicht wirkte ausgezehrt und abgemagert. Hellgraue Schatten lagen unter ihren Augen, und dennoch glitzerten sie vor Freude darüber, endlich dieses wichtige Etappenziel erreicht zu haben.
    Mehr als drei Wochen lang waren die Waidbacher unterwegs gewesen. Pfeifend und lachend, scherzend und plaudernd waren sie an jenem Mittwoch von Büdingen aus aufgebrochen.
    Ihr Treck zählte mehr als dreihundert Seelen: Kinder und Greise, junge Familien, frisch getraute Eheleute, Handwerker, Künstler, Tagelöhner, Bauern und Gelehrte.
    Johann Facius, der Leiter des offiziellen kaiserlich russischen Kommissariats in Büdingen, hatte alles penibel besorgt in der Stadt, die zu dieser Zeit einem Heerlager glich. Nicht nur rund um den Marktplatz und in allen Herbergen und Privatquartieren, sondern sogar im Rathaus lagerten die Ausreisewilligen und warteten auf den Marschbefehl. Die Büdinger Bäcker hatten um Aufhebung des Mühlbanns gebeten, um auch in Mühlen außerhalb des Stadtgebiets Getreide mahlen lassen zu können, da nur so die Menschenmengen mit Brot versorgt werden konnten.
    Auch bei den Büdinger Metzgern war die rigide Schlachtordnung aufgehoben – jeder Meister durfte so viel Vieh schlachten, wie er beschaffen konnte, um die »Russländer« hinreichend zu verpflegen.
    Der Treck wurde von mehreren Beauftragten des Kommissars begleitet – ortskundigen Männern mit grimmigen Mienen, die den Auswanderern voranritten.
    Fast sechzig Meilen hatten die Waidbacher zu bewältigen – mit all den Handkarren und den gehschwachen Kindern und Greisen schafften sie tatsächlich kaum mehr als zwei Meilen am Tag, zumal die Straßen und Wege nach der Schmelze und dem Durchzug vorangegangener Aussiedler schlammig und unwegsam waren. Ein ums andere Mal versackte einer der Karren im knietiefen Morast und musste von mehreren Männern wieder herausgezogen werden. Hinter Göttingen hatte Dauerregen eingesetzt, der dem Treck schwer zusetzte.
    Immer häufiger hörte man bellendes Husten, mancher legte sich mit Fieber nieder und wollte keinen Schritt mehr tun. Beulen und Blasen, Risse und Geschwüre bildeten sich an den Füßen der Menschen. Mit jeder Meile nahm das Stöhnen und Ächzen zu. Einige ließen kurzerhand ihren Hausrat am Wegesrand stehen, weil die zusätzliche Belastung nicht zu schaffen war. Dann ging es nur noch darum, heil an Leib und Seele die Hafenstadt zu erreichen.
    Die Treckbegleiter sorgten mit strengen Anordnungen und der Androhung von empfindlichen Strafen dafür, dass keiner auf die Idee kam, sich bei Nacht und Nebel mit dem bereits ausgezahlten Tagegeld davonzustehlen.
    Im Gegenteil schwoll der Treck sogar an, je weiter sie Richtung Norden vordrangen. Bereits im südlichen Vogelsberg ließen Bauern ihr Arbeitsgerät auf dem Feld und ihre Güter stehen und liegen und schlossen sich ihnen an. Die Obrigkeit sei zu streng, die Arbeit zu viel …
    Ein ums andere Mal wunderte sich Bernhard, wie bereitwillig die Offiziere die Flüchtlinge aufnahmen – keine langwierigen Anträge, keine Steuerabgaben, keine Formalitäten … So ging es also auch, dachte der junge Schuster, der seine Steuerschuld an den Grafen zu Ysenburg bis auf den letzten Kreuzer beglichen hatte und dessen Familie fein säuberlich mit allen erforderlichen, hochoffiziellen Angaben in den Transportlisten geführt wurde.
    Kurz hinter Fulda hatte es einen Aufruhr gegeben, der das ganze Unternehmen fast zum Scheitern gebracht hätte. Ein Gerücht breitete sich von der Spitze des Trecks bis zu den Nachzüglern wie ein Lauffeuer aus: Es hieß, an der russischen Grenze werde den Emigranten das gesamte bereits ausgezahlte Geld wieder abgenommen und sie bekämen eine Brandmarkung auf die Stirn, die sie für alle Zeiten als Leibeigene

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