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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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wahrscheinlich hat er sich allein vom Quartier entfernt, was, Alfons?«, antwortete statt seiner Helmine.
    »Meinst du?«, erwiderte Klara ungläubig. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass deine Mutter ihn alleingelassen hat. Er findet doch nie im Leben wieder zurück, und wenn er anfängt zu laufen, landet er noch irgendwann in Afrika, ohne einmal zu rasten.«
    Helmine kicherte. »Vielleicht ist er ausgebüxt, weil er nicht schnell genug zu den Russen kommen kann.« Sie fasste nach seinem Handgelenk. In ihre Miene trat ein listiger Ausdruck. »Komm, Alfons, wir spielen ein tolles Spiel.«
    Alfons ließ sich willig von ihr mitführen.
    »Was hast du vor?«, fragte Klara neben ihr.
    »Lass dich überraschen.«
    Sie hatten inzwischen die Handelsschiffe passiert und eilten weiter am befestigten Ufer entlang, wo sich die Menge der Arbeiter allmählich lichtete. Die Rufe der Packer und Matrosen drangen nur noch gedämpft zu ihnen, auf der Straße schlenderten nur noch vereinzelt Menschen.
    »Da!« Helmine wies mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf einen aus Holzplanken gezimmerten Steg, an dem ein Ruderboot vertäut lag. »Komm, Alfons!« Sie trieb den Bruder zur Eile an.
    Klara atmete schwer und griff sich an die Seite. Der Steg schwankte und knackte, als die beiden Mädchen und Alfons ihn betraten. Helmine hockte sich hin und ruckelte an dem Boot. Sie sah sich um. Keiner beachtete die drei.
    »Na los, Alfons, setz dich rein!« Lockend lächelte sie ihn an.
    Alfons ließ sich nicht lange bitten und hüpfte mit einem Satz in das schaukelnde Boot. Er breitete die Arme aus, um das Gleichgewicht zu halten, und ließ sich auf die mittlere Bank plumpsen. Seine Augen funkelten.
    »Jetzt geht’s nach Russland!«, rief Helmine, löste das Tau und versetzte dem Boot einen kräftigen Schubs auf den Fluss hinaus Richtung Ostsee. Sie lachte lauthals, als sich Alfons’ Züge veränderten, während er erkannte, dass er ganz allein losgeschickt werden sollte. Seine Miene verzog sich, als wollte er weinen.
    Helmine zog ein Tüchlein unter ihrer Schürze hervor und winkte damit freudestrahlend ihrem Bruder hinterher. Sie stieß Klara mit dem Ellbogen in die Rippen, weil die Jüngere nur dastand und am Nagel ihres Zeigefingers biss. »Na, komm schon, Klara, wink Alfons ein Lebwohl!«
    »Warum hast du das getan?« Klaras Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Was wird nun aus Alfons?«
    »Na, was wohl? Er fährt schon mal vor und guckt sich an, was uns erwartet. Was denn sonst?«
    »Aber … aber Russland ist doch ganz furchtbar weit. Ich dachte, wir fahren viele Tage, bevor wir ankommen, und er hat ja gar nichts zu trinken und zu essen dabei …«
    »Ach, dummes Gewäsch«, sagte Helmine. »Hast doch gesehen, wie der rennen kann. Der ist zäh, das hält der durch. Und die Russen werden ihn schon durchfüttern.«
    »Ich weiß nicht, Helmine … Das war nicht richtig, glaube ich.« Klara begann am ganzen Körper zu schlottern.
    Leise Rufe kamen von dem auf der Trave treibenden Boot. »He!« Und wieder »He!« Alfons klammerte sich an den Rändern des Kahns fest und fing an, hin und her zu schaukeln.
    Helmine starrte ihm hinterher, die Augen zu schmalen Schlitzen verengt, den Mund verkniffen. Als sie sich umdrehte und sich wieder Klara zuwandte, verzog sie die Lippen zu einem boshaften Lächeln. »Erinnerst du dich, wie du vergewaltigt worden bist, Klara?«
    Klara griff sich an den Hals. »Nie im Leben werde ich diesen Tag vergessen.«
    »Du weißt, dass dir der Herrgott damit ein Zeichen geschickt hat, nicht wahr?«
    Klara nickte mit offenem Mund.
    »Er wird dir noch ein Zeichen schicken, ein ganz entsetzliches. Dein Leib wird anschwellen, bis er platzt und eine hässlich verwachsene Missgeburt mit Klauen nach draußen drängt und deinen Leib zerreißt …«
    Klara wich einen Schritt vor ihrer Base zurück.
    »… aber nur«, fuhr Helmine fort, »wenn du auch nur einem einzigen Menschen verrätst, dass wir Alfons bereits auf die Reise geschickt haben. Schwöre, dass du niemals irgendjemandem etwas sagen wirst!«
    »Ich schwöre«, krächzte Klara.

10. Kapitel
    N ein, dieser Mann war kein Matrose. Eher ein aufstrebender Kaufmann, der seine Geschäfte im Lübecker Hafen in die Wege leitete und hingerissen von dieser Welt war. Die Abenteuerlust stand ihm ins Gesicht geschrieben, während er hoch oben im Mastkorb des Schiffes den Blick nach rechts und links, nach vorne und nach hinten wandte, die Haare in der Brise wehend, ein

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