Weiße Nächte, weites Land
ist meine Schwester?«
»Ihr befindet Euch in meiner Petersburger Stadtwohnung, und bei der Dame, die neben Euch liegt, scheint es sich um Eure Schwester zu handeln, obwohl die äußere Erscheinung diesen Rückschluss kaum zulässt.« Ein tiefes, wohlklingendes Lachen begleitete die Worte des Mannes, der sich nun einen mit Brokat bespannten Sessel heranzog, sich setzte und die Beine übereinanderschlug. Das Glitzern des Kronleuchters spiegelte sich in seinen polierten Stiefeln.
»Eleonora …« Christina beugte sich über die Schwester, die neben ihr lag wie eine Tote. Ihr bleiches Gesicht wirkte auf den cremefarbenen Kissen wächsern, die Haare umgaben sie wie die schwungvollen Pinselstriche eines Künstlers auf Leinwand. Die Lippen waren blutleer, die Brust unter der Decke hob und senkte sich kaum beim Atmen. Christina näherte ihr Ohr dem Mund der Schwester.
»Sorgt Euch nicht, sie hat den Überfall überlebt, genau wie Ihr. Es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, wann sie erwacht.«
Christina küsste Eleonoras Stirn und zog deren Decke ein wenig höher, selbst überrascht von der fürsorglichen Geste. Sie wandte sich dem Fremden zu – und wurde sich mit einem Schlag bewusst, dass sie weder ihr Leinenhemd noch ihr Russenkleid trug. Kühle Seide schmiegte sich um Schultern, Rücken, Brust, und als sie an sich hinabsah, bemerkte sie kunstvoll gestickte Rosen und eine filigrane Schnürung am Ausschnitt.
Wie war sie in dieses Nachtgewand gekommen?
»Wer seid Ihr? Wie kommen wir hierher?«, fragte sie, aber in ihrer Stimme lag weder Panik noch Entsetzen. Warum auch? Ganz egal, auf welchen Wegen sie hierher gelangt war, hier war es gut, hier war sie richtig.
Sie schaute sich im Zimmer um. Vor dem geöffneten bodentiefen Fenster wehten duftige Gardinen, die Aussicht ging hinaus auf eine so breite Straße, wie Christina sie noch nie zuvor gesehen hatte. Schemenhaft sah sie durch den dünnen Stoff im Morgenlicht kostbar ausstaffierte Kutschen vorbeirattern und elegant gekleidete Herrschaften flanieren. Das Klappern der Hufe auf dem Kopfsteinpflaster mischte sich mit dem Gemurmel der Passanten, dem fröhlichen Rufen von Laufburschen. Die Luft, die hereinwehte, war erfüllt von dem Geruch nach Seetang und salziger Frische. In der Ferne vermeinte Christina die Brandung der Ostsee zu hören, deren Fluten in die künstlichen und natürlichen Wasserwege dieser Stadt strömten und sie gleichsam zu beleben schienen wie ein schlagendes Herz.
Sie hätte sich gern auf den schmalen Balkon gestellt und aus dieser Perspektive die Szenerie betrachtet, aber aufzustehen schien keine gute Idee zu sein. Zum einen spürte sie bei der geringsten Bewegung schmerzhaft jeden einzelnen Knochen, jeden Muskel, zum anderen hatte sie ja nichts an als dieses Nachtgewand.
Die Ausstattung des Schlafgemachs sprach vom exquisiten Geschmack des Besitzers. Über die weißen Stofftapeten zog sich ein paar Handbreit unter der Decke eine Schmuckborte. Den Kamin begrenzten harmonisch geformte Säulen mit modellierten Girlanden aus Weinranken. Der Sekretär vor dem Fenster schimmerte in dunkelbraunem Holz, die Papiere darauf, ein Tintenfass und Federkiele lagen akkurat angeordnet.
Alles strahlte eine majestätische Ruhe aus, verbunden mit erlesener Einfachheit. Nirgendwo ein verspieltes Detail, nirgendwo überladener Pomp. Gewiss der Raum eines Mannes – oder war diese klassische Eleganz die neueste Mode in den Weltstädten?
Was würde ihr Gönner denken, wenn er erfuhr, woher sie stammte? Verschweigen konnte sie es ihm nicht, das erkannte Christina trotz der Kopfschmerzen glasklar.
Der Mann erhob sich und verbeugte sich nun. »Entschuldigt, ich hätte mich gleich vorstellen müssen. Ich bin Nikolaj Petrowitsch, Offizier im Garderegiment Ihrer Kaiserlichen Hoheit. Bitte nennt mich Nikolaj.«
»Nikolaj …« Ein Lächeln legte sich über Christinas Züge, als sie seinen Namen aussprach. Sie betrachtete das bildhübsche Gesicht des Russen. Nie zuvor hatte sie einen attraktiveren Mann gesehen. »Was ist geschehen, Nikolaj? Wie … wie kommen wir hierher? Und …« Sie zupfte an dem Nachthemd und ließ ihre Wangen zart erglühen in sittsamer Scham.
Nikolaj verbarg sein Lächeln hinter einem Hüsteln. »Seid unbesorgt. Meine Schwester Mascha hat Euch in der Nacht aus Eurem Sarafan geholfen und Euch Nachtgewänder aus ihrer Garderobe übergestreift, bevor sie Euch in ihr Bett brachte. Geholfen hat ihr«, Nikolaj hüstelte, »mein Freund
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