Weiße Nächte, weites Land
das Unbegreifliche. Sie müssen in der Nacht aufgestanden sein. Aber warum in Herrgotts Namen? Warum sollten die beiden auf dem Kasernenhof herumwandeln? Hier gibt es nichts zu sehen, nichts zu erleben … Ich bin in großer Sorge, Bernhard«, fügte er hinzu, bevor er den Kopf senkte und seine Schuhspitzen betrachtete.
Bernhard musterte ihn skeptisch, und Matthias ahnte, was in ihm vorging. Es war im Waidbacher Treck kein Geheimnis, dass es um die junge Ehe des Knechts nicht gut bestellt war. Zu oft hatte man Christina ihren Mann angiften gehört, zu oft hatte Matthias eine gleichgültige Miene aufgesetzt, wenn seine Frau mit diesem oder jenem kokettierte. Und nun zerriss es ihn vor Angst um sie?
»Hast du dich unter den Kolonisten umgehört?«, erkundigte sich Bernhard und kratzte mit einem Holzlöffel die Reste des roten Rübenbreis aus seiner Schüssel.
»Ich hab’ jeden Einzelnen befragt und nur erstaunte oder gleichgültige Gesichter gesehen. Von Kersen« – Matthias spie den Namen des Vorstehers aus wie ein ekeliges Insekt – »meinte, dass bei einem solchen Unternehmen immer mit Verlusten zu rechnen sei und dass wir von Glück sagen können, wenn die Weber-Schwestern die Einzigen sind, die nicht überleben.« Er verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. »Glaub mir, Bernhard, ich werde die beiden nicht für tot erklären, solange ich nicht weiß, was passiert ist. Ich werde den Kasernenhof nicht ohne sie verlassen. Tot oder lebendig.«
Bernhard erhob sich und verstaute Holzlöffel und Schüssel in dem Stoffbeutel, dessen Gurte er quer über der Brust trug. Er löste das Lederband im Nacken, fasste die Haarsträhnen neu zusammen und umwickelte sie fest. »Lass uns bei den Soldaten nachfragen!«
»Ein paar habe ich schon angesprochen«, erwiderte Matthias niedergeschlagen. »Sie verstehen kein Wort.«
Auf diese Weise verlief auch die weitere Befragung der russischen Wachleute. Alle schüttelten nur den Kopf.
Matthias raufte sich die Haare. »Ich muss nach Petersburg fahren und dort nachforschen.«
»Wie soll das gehen?«, erwiderte Bernhard. »Sie lassen dich hier nicht raus. Und was sollte das nutzen? Auch die beiden Frauen werden hier nicht einfach rausspaziert sein. Nein, wir müssen auf dem Kasernenhof nach Spuren suchen.«
Oder an den steinigen, mit Seetang und Strandgut bedeckten Ufern der Bucht, ging es Matthias durch den Sinn. Er ahnte, dass Bernhard das Gleiche dachte, aber aus Taktgefühl schwieg.
Bis zum Abend fanden die beiden Männer nicht den geringsten Anhaltspunkt über den Verbleib der Weberinnen.
Nachdem Anton von Kersen auch diejenigen in die Kaserne befehligt hatte, die die Wartezeit in Hütten verbrachten, trat er vor die zu seinen Füßen hockenden Waidbacher und klopfte mit seinem Stab auf den festgetretenen Staub, um sich Gehör zu verschaffen. »Haltet euch für morgen bereit! Wir ziehen weiter an die Wolga und den Fluss hinab bis zu dem Gebiet, das uns Kaiserin Katharina zugeteilt hat. Ein steiniger Weg liegt vor uns, seht zu, dass ihr ihn ausgeruht und bei Kräften beginnt.«
Gemurmel war zu hören, Klara schrie auf, Sophia weinte in hohen Tönen wie eine Sirene, obwohl sie gewiss nicht verstanden hatte, was diese Ankündigung bedeutete. Manche begannen sofort, ihr Bündel zu schnüren, um in der Nacht den Kopf darauf zu betten.
Da trat Flickschuster Bernhard Röhrich mit erhobenen Händen vor. »Waidbacher, wie ihr wisst, vermissen wir Eleonora und Christina. Wir sollten nicht ohne sie aufbrechen. Oder wollt ihr auf unserem gemeinsamen Weg treue Gefährten vergessen und verraten? Matthias und ich sind der Meinung, dass wir mindestens noch drei Tage warten sollten, bevor wir die Weber-Schwestern einem ungewissen Schicksal überlassen. Wir sind es ihnen schuldig, dass wir uns um sie kümmern. Schaut, sie lassen zwei Kinder zurück …« Er deutete auf Klara und Sophia, deren Gesichter blass wie Kreide waren. Die Versammelten wandten sich den Mädchen zu und begannen zu flüstern.
Anja erhob sich, ihr Mann Franz tat es ihr nach. »Alle, die warten wollen, bis die Weber-Schwestern wieder zu uns stoßen oder bis wir wissen, was ihnen widerfahren ist, mögen nun aufstehen«, rief sie mit fester Stimme, die von den Holzwänden der Kaserne hallte.
Als Erste erhob sich Veronica mit ihrem Kind im Arm. Der Säugling hatte ein krebsrotes Gesicht, das Mündchen verzerrte sich beim angestrengten Husten. »Wir lassen die Schwestern nicht im Stich. Wir warten.« Ihr Mann Adam
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