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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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stellte sich neben sie, nahm die Hand seiner Tochter zwischen Daumen und Zeigefinger. Jedem war ersichtlich, dass es der jungen Familie nicht nur um das Schicksal der Weberinnen ging – mit dem kränkelnden Kind käme es ihnen zupass, wenn sich die Abfahrt um ein paar Tage verschob.
    Aber die Gründe zählten am Ende wenig. Hauptsache, die Waidbacher standen geschlossen hinter Bernhard und Matthias – und das taten sie. Nacheinander erhoben sich alle aus dem hessischen Dorf, die Mienen trotzig und entschlossen.
    Frostkaltes Schweigen legte sich über die Gruppe, von den aus anderen Gebieten stammenden Kolonisten mit Interesse beobachtet.
    Auf von Kersens Stirn perlte Schweiß. Verächtlich spuckte er neben sich aus. »Das werdet ihr bereuen«, stieß er hervor. »Wir haben uns an den Plan der Zarin zu halten. Die fettesten Äcker werden vergeben sein, wenn wir als Nachzügler das Ziel erreichen. Und das alles wegen zwei leichtfertigen Frauenzimmern, die sich wahrscheinlich in den Soldatenunterkünften verlustieren.«
    Bernhard hielt Matthias mit eisernem Griff am Oberarm zurück, als der auf den Vorsteher losgehen wollte. »Lass ihn!«, zischte Bernhard. »Es erzürnt ihn, dass seine Autorität untergraben wird. Wenn wir zusammenhalten, kann uns nichts passieren.«
    »Drei Tage gebe ich euch«, polterte von Kersen da. »Am Morgen des vierten Tages brechen wir auf – wer dann noch mault, wird in Ketten gelegt und ins Zuchthaus geworfen. Dafür werde ich persönlich Sorge tragen.« Drohend schwang er seinen Stock in der Luft, bevor er sich mit einem Ruck abwandte und hinausstiefelte. Das empörte Murmeln und Raunen seiner Untergebenen und das leise Gelächter der Unbeteiligten folgten ihm.
    Als er aus dem Tor trat und verschwand, wandte sich Matthias an die Waidbacher. »Ich danke euch«, sagte er leise. Trotzdem war ihm, als läge ein Strick um seinen Hals, der sich eng und immer enger zuschnürte und ihm die Luft zum Atmen nahm.

18. Kapitel
    Sankt Petersburg
    A ls Christina erwachte, sickerte in ihr vom Schlaf und Schmerz benebeltes Hirn das langsame Erkennen, dass es sie ins Paradies verschlagen haben musste.
    Sie wusste nicht, wie sie hierher geraten war, aber sie kannte diesen Ort aus ihren Träumen.
    Vor ihr ein Paar bernsteinfarbene Augen, die von dichten, kurzen Wimpern umkränzt waren, darüber dunkle Brauen, zusammengezogen mit einer Furche über der Nasenwurzel. Glut schien trotz des sorgenvollen Ausdrucks hinter den Pupillen zu glimmen.
    Rechts und links neben dem Gesicht nahm sie duftige Seidenvorhänge in Pastelltönen wahr, die zu einem aus edlem Holz geschnitzten und mit Ornamenten geschmückten Betthimmel gehörten. Von der mit Stuck verzierten Decke hing ein Leuchter, dessen Glassteine funkelten wie kostbarster Schmuck im Sonnenlicht.
    Wieder sah sie in diese Augen, an deren Rändern sich nun feine Fältchen bildeten, ein Lächeln, das Christina instinktiv erwidern wollte. Als sie aber ihre Gesichtsmuskeln bewegte, durchzuckte sie ein Stechen von der Schläfe bis zum Hinterkopf.
    »Da seid Ihr endlich«, sagte der Mann mit den Bernsteinaugen. Der Klang seiner Stimme legte sich wie Balsam auf Christinas schmerzende Glieder. Er sprach Deutsch mit einem hinreißenden russischen Akzent. Als Christina den Blick von seinem schmalen Mund mit den perlenweißen Zähnen tiefer gleiten ließ, sah sie, dass er eine russische Uniform trug – aber keine verschlissene wie die Wachsoldaten auf dem Kasernenhof, sondern eine blütenweiße mit Stickerei am Kragen und blitzenden Goldknöpfen.
    »Wie fühlt Ihr Euch?«, vernahm sie wieder seine Stimme.
    Ein Schauer durchfuhr sie. Für einen Moment schloss sie die Augen, genoss die beglückenden Gefühle, die dieser Fremde in ihr wachrief. Schließlich hob sie die Lider und öffnete den Mund. Aber als sie zu sprechen beginnen wollte, kam nur ein Krächzen über ihre Lippen.
    Sofort verschwand sein Gesicht, wie Christina mit Bedauern bemerkte. Doch wenig später kehrte der Mann mit Wasser in einem Kristallglas zurück und reichte es ihr.
    Sie hob den Oberkörper an, stützte sich auf die Ellbogen und schaffte es nun, dem Fremden ein Lächeln zu schenken, bevor sie trank. Seufzend ließ sie sich zurück in die wolkenweichen Kissen gleiten, die einen zarten Duft nach Minzkraut und Seife verströmten. Wenige Herzschläge lang genoss sie das himmlische Gefühl luxuriöser Geborgenheit, während der Fremde sie betrachtete.
    Dann richtete sie sich auf. »Wo bin ich? Wo

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