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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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Gemach betrat.
    Nikolaj sprang auf und begrüßte sie mit zwei Wangenküssen, bevor sie sich an Christina wandte. »Wie schön, dass Ihr wieder bei Bewusstsein seid! Geht es Euch besser?« Sie umfasste Christina behutsam an den Schultern und küsste ihre Wangen. »Ich bin Mascha, Nikolajs Schwester.«
    Mascha war die weibliche Ausgabe von Nikolaj. Sie hatte dieselben bernsteinfarbenen Augen, ihre nussbraunen Haare hatte sie zu einer Flechtfrisur aufgesteckt. Sie trug keinen Schmuck und nur ein einfach geschnittenes, aber dadurch umso edler wirkendes, weich fließendes dunkelgrünes Kleid, das unter der Brust gerafft und an der Schulter mit zierlichen, bauschigen Puffs versehen war, die in eng anliegende Ärmel übergingen. Ihre Miene war freundlich, aber Christina bemerkte, dass das Lächeln Maschas Augen nicht erreichte. Wachsam musterte sie Christina.
    Nikolaj übernahm es, seine Schwester über alles in Kenntnis zu setzen, was er von ihrem Gast erfahren hatte. Am Ende nickte Mascha mit ernstem Gesicht. »Eure Leute werden in großer Sorge sein.« Sie wandte sich ihrem Bruder zu. »Übernimmst du es, sie gleich zu informieren? Vielleicht können wir einen Transport organisieren, damit unsere beiden Gäste baldigst wieder zu ihren Lieben kommen?« Sie ging um das Bett herum und beugte sich über Eleonora, deren Miene unbewegt wie die einer Statue war. Mit langen, feingliedrigen Händen strich Mascha über Eleonoras Stirn und Wangen. Als sie aufsah, standen Sorgenfalten auf ihrer Stirn. »Ruf noch einmal nach Michail«, bat sie ihren Bruder. »In der Nacht hat er sie bestimmt nicht so gründlich untersucht, wie es nötig wäre. Und wer weiß, wie es um die ärztliche Versorgung in der Kaserne bestellt ist.«
    Christina hielt die Hände unter der Bettdecke ineinander verkrampft. Beim Schlucken fühlte sie in ihrer Kehle ein rauhes Kratzen. Hinter ihren Schläfen pochte es, ihre Gedanken summten wie ein Bienenschwarm.
    Zurück zum Treck? Zurück in den schmuddeligen Kasernenhof, zu dem Bauernpack? In quälend langsam verstreichenden Stunden darauf warten, dass sie an ein unbekanntes Ziel gelangten, wo sie sich als Ackerbauern niederlassen sollten? Nein, niemals.
    Genau hier in diesem luxuriösen Gemach, in dem es ihr an nichts mangelte, sollte ihr Leben neu beginnen.
    Was konnte es Schöneres geben, als in dieser Märchenstadt heimisch zu werden? Hatte ihr das Schicksal diesen Mann nicht aus genau diesem Grund zugespielt?
    Wie gut, dass sie ihre Verwandten nicht getroffen hatte! Ein besseres Ansehen als Nikolaj Petrowitsch und seine Schwester besaßen sie gewiss nicht.
    Was hatte sie zu verlieren? Nur einen ungeliebten Ehemann, eine bockige kleine Schwester, die sich inmitten der vertrauten Leute aus dem Treck schon irgendwie durchboxen würde, und die Erinnerung an ein prickelndes Getändel mit einem charmanten Handwerksgesellen.
    Nein, nein. Nichts zog sie zurück nach Oranienbaum.
    Christina wappnete sich für einen Neuanfang in Sankt Petersburg.
    Um Eleonora würde sie sich kümmern – später, wenn der Treck abgereist war und sie beide offiziell für tot erklärt waren.

19. Kapitel
    Kasernenhof Oranienbaum
    D ie Fußspitzen des Vorstehers Anton von Kersen baumelten eine Handbreit über dem Boden, sein Kopf schien halslos auf den Schultern zu sitzen, seine Stimme war ob des harten Griffs an seinem Kragen nur ein unverständliches Schnarren, die Augen quollen aus den Höhlen hervor. »Die drei Tage sind vorbei … So war es beschlossen und vereinbart«, quetschte er tonlos hervor.
    Matthias schüttelte ihn ein letztes Mal und ließ ihn jäh los, so dass von Kersen taumelte und mit den Armen ruderte. Er griff sich an den Hals und sog gierig die Luft ein, hustete bellend. »Das werdet Ihr bereuen, Hundsfott. So springt Ihr nicht mit dem Vorsteher um!«
    »Vorsteher, pah! Wir haben Euch nie gewählt!«
    »Ich habe hier das Sagen, und ich habe die Befehle der Kaiserin auszuführen«, erwiderte von Kersen, immer noch heiser hustend.
    Eine Traube von Menschen hatte sich um die beiden geschart. Alle starrten verächtlich auf den Mann, der sich als ihr Anführer aufspielte und der doch gar nichts von einem Menschen hatte, dem man vertrauensvoll folgte.
    »Wir können nicht bis zum Nimmerleinstag darauf warten, dass die Newa die Leichen der beiden Frauen ausspuckt. Vier Tage sind sie nun verschwunden – glaubt ihr ernsthaft, dass sie auf einmal putzfidel vor uns stehen, als wäre nichts geschehen? Ich hätte das

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