Weiße Nächte, weites Land
Verschwinden gern aufgeklärt, allein, damit ich Ruhe vor Euch habe. Aber wie soll das gehen, wenn alle Zeugen, die wir befragen können, in dieser entsetzlichen Sprache sprechen, von der man nicht ein Wort versteht?«
»Dann sorgt dafür, dass wir nach Petersburg fahren können, um nach ihnen zu suchen«, spie Matthias aus. Aus der Gruppe kamen zustimmende Rufe.
»Keine Ausnahmen!«, widersprach von Kersen. »Wenn Euch gestattet wird, das Lager zu verlassen, folgen Euch Dutzende nach! Dieses Risiko geht die Kaiserin nicht ein. Wir werden in Saratow gebraucht, nicht in Petersburg! Und überhaupt – was kratzt Euch die Schlampe, die Ihr geheiratet habt? Weiß doch jeder, dass die mit jedem herumhurt!«
Bernhard Röhrich und Daniel Meister hasteten gleichzeitig an Matthias’ Seite, als der die Fäuste ballte. Sie brauchten ihre ganze Kraft, um den wütenden Mann davon abzuhalten, dem Giftzwerg endlich das Schandmaul zu stopfen.
»Er ist es nicht wert«, zischte Bernhard. »Komm zur Besinnung, Matthias! Was nützt es dir, wenn du am Ende im Kerker hockst?«
Von Kersen gab inzwischen Fersengeld. Staub wirbelte auf, als er loswetzte und hinter dem Kasernenhof verschwand.
Sophia, die mit Klara in der Gruppe stand und alles mitbekommen hatte, stimmte wieder ihr Sirenengeheul an. Klara ruckelte ungeduldig an ihrem Arm. »Schweig still, ist doch nichts passiert!« Aber Sophia heulte immer lauter, und schließlich riss sie sich von Klara los und flitzte in ihrer winzigen Russenkutte auf kurzen Beinen zu Matthias, der sich ins Gras geworfen hatte und sich erschöpft die Schläfen rieb. Er zog die Kleine auf den Schoß. Sie barg ihr Gesicht an seiner Schulter.
Matthias’ Herz sank, als sie murmelte: »Wann kommt die Mama endlich?«
Er hob zu einer tröstenden Erwiderung an, wollte von einer Wolke erzählen, auf der die Mama saß und sie beobachtete, da hörte er – genau wie alle anderen, die diskutierend um ihn herumstanden –, dass das schmiedeeiserne Kasernentor quietschend aufschwang.
Eine von zwei schwarzen Rössern gezogene Droschke ratterte herein, auf dem Kutschbock hockte mit hochmütiger Miene ein Diener in Livree.
Alle starrten dem vornehmen Gespann entgegen, das völlig deplaziert in der Soldatenunterkunft wirkte. Da sprang der Bedienstete herab, öffnete die Kutschentür und zog den Tritt hervor.
Fassungslos schweigend beobachteten die Menschen, wie die beiden für tot gehaltenen Frauen ausstiegen.
Ein Lächeln breitete sich auf Matthias’ Gesicht aus. »Jetzt ist die Mama wieder da«, flüsterte er Sophia ins Ohr, setzte sie ab und gab ihr einen Klaps auf den Po, damit sie sich in Bewegung setzte. »Lauf!«
Während sich einige der Männer geräuschvoll schneuzten und sich Frauen mit Tüchlein die Augen abtupften, fielen sich Mutter und Kind in die Arme. Eleonora lachte und weinte gleichzeitig. Die Tränen liefen ihr über das Gesicht, während sie ihre Tochter drückte und küsste und im Kreis herumschwenkte.
»Gehst du wieder weg, Mama?«, fragte Sophia.
»Niemals mehr wieder, mein Schatz. Niemals mehr wieder. Das schwöre ich dir.«
Christina stand mit unbewegter Miene daneben. Um ihren schönen Mund lag ein bitterer Zug. Sie nickte nur, als der Diener ihr einen Ranzen reichte, in dem sich ihre Kleidung befand. Mascha hatte ihr, sobald sie das Bett verlassen konnte, mit einem Kleid ausgeholfen, einem einfachen Hauskleid, wie die Russin betont hatte. Aber für Christina war es ein Traum in Königsblau, und weil Mascha ihre Begeisterung rührend fand, hatte sie es ihr kurzerhand überlassen. Ein schwacher Trost für das, was Christina stattdessen aufgeben musste.
Hinter Sophia kam nun Klara langsam auf ihre älteren Schwestern zu. Auch ihre Augen glänzten feucht von Tränen. Sie umarmte erst Eleonora, die sie links und rechts auf die Wangen küsste, dann Christina, die die Geste steif und wortlos erwiderte.
Umringt von ihren Landsleuten, standen die beiden Frauen da – die eine mit ihrem Kind auf dem Arm und strahlend vor Glück, die Hand auf der Schulter der kleinen Schwester, die andere mit hängenden Schultern und zusammengepressten Lippen.
»Na, da sind wir aber gespannt, was ihr uns zu erzählen habt.« Anja Eyring verschränkte die Arme vor der Brust und durchbrach das allmählich drückende Schweigen. Franz neben ihr lachte zustimmend – sonst niemand.
Anton von Kersen, dem der Auflauf am Kasernentor nicht entgangen war, zwängte sich mit energischen Bewegungen, derben
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