Weiße Nächte, weites Land
plötzlich ein verfilzter Köter vor ihnen auftauchte und knurrend die Zähne fletschte. Eleonora krallte sich in Christinas Arm, als sie auf die hässliche Kreatur starrten und warteten, dass sie entweder verschwand oder ihnen an die Kehle ging.
Für Sekunden verharrten sie, bis Christina beherzt einen Schritt nach vorn machte und in die Hände klatschte. »Verdrück dich, du Mistvieh!«, rief sie dabei. Tatsächlich klemmte der Köter den Schwanz zwischen die Beine und schlich sich, tiefes Misstrauen im kohlschwarzen Blick, an ihnen vorbei.
Christina lachte auf, packte ihre Schwester und zog sie weiter.
Eleonora wollte wieder in den Laufschritt verfallen, doch in der nächsten Sekunde zerriss wie aus dem Nichts ein Höllenschmerz, vom Nacken ausgehend, ihren Kopf. Gleißende Lichter wirbelten vor ihren Augen, während die Pein in ihrem Schädel ihr Denken auszulöschen begann.
Sophia, dachte sie mit den letzten wachen Atemzügen. Liebe, süße Sophia. Wie ein Glühen schmerzte der Name ihres Kindes in ihrer Brust. Was wird nun aus dir …
Die Fassaden in der Gasse verschwammen, Eleonoras Blick irrte durch die Nebelschwaden hindurch in den gespenstischen Nachthimmel. Sie spürte, wie die Hand der Schwester ihren Fingern entglitt.
Den Aufprall auf dem Pflaster fühlte sie nicht mehr.
Ihre Wahrnehmung löste sich in Schwärze auf.
17. Kapitel
Kasernenhof Oranienbaum
W o ist Mama?« Sophia klammerte sich an den Saum der grauen Kutte, die bis zu den Knien reichte und die der Knecht Matthias nach Art der Russen mit einer Kordel um die Taille geschnürt hatte.
Er beugte sich hinab, um mit dem Mädchen zu sprechen. Die kastanienbraunen Haare hingen ihm in den Augen. Er strich sie aus der Stirn. »Die Mama kommt bald wieder, Sophia. Schau, du hast Klara und mich. Wir passen auf dich auf, bis sie wieder da ist.«
Sophia verzog weinerlich das Gesicht. Er drückte sie an sich und streichelte ihr den Rücken. Dann hob er sie hoch und spazierte mit ihr durch den Kasernenhof voller Menschen.
Seit den frühen Morgenstunden vermissten sie die beiden Weber-Schwestern. Die Decken an ihrem Schlafplatz lagen penibel gefaltet. Was war bloß geschehen?
Wie konnten zwei erwachsene Frauen verschwinden, als hätten sie sich in Luft aufgelöst?
Unmöglich, dass sie in der Nacht entführt worden waren. Viele schliefen in diesen erwartungsfreudigen Tagen unruhig oder taten kein Auge zu. Sollte es einen noch so leisen Kampf gegeben haben, hätte man das gehört und Alarm geschlagen. Und wie hätten die beiden Frauen unbemerkt an den Wachsoldaten vorbei weggeschafft werden sollen?
Nein, ein Verbrechen in der Kaserne schloss Matthias aus.
Vielleicht aber waren Eleonora und Christina in der Nacht auf dem Gelände herumgeschlichen, vielleicht hatten sie sich an die Meeresbucht gesetzt, vielleicht waren sie spazieren gegangen?
Aber auch dies müsste irgendjemand bezeugen können.
Matthias’ Herz hämmerte hart gegen seinen Brustkorb, sein Atem ging schnell, als wäre er gerade gelaufen.
Er brachte Sophia zu Klara, die mit ihrer Freundin Helmine auf der Blumenwiese vor dem Kasernenhof lag und in die Wolken schaute. »Du musst dich um die Kleine kümmern, Klara. Tröste sie bitte, sie weint nach ihrer Mama.«
Nach einem Seitenblick auf Helmine schaute Klara himmelwärts, setzte sich aber auf und streckte Sophia die Arme entgegen. »Na, komm her, du Quälgeist.«
»Lass sie nicht aus den Augen!«, bat Matthias eindringlich.
»Wäre das nicht Angelegenheit der Mutter?«, meldete sich da Helmine zu Wort. »Wie kann man ein kleines Kind zurücklassen?«
»Urteile nicht, ohne zu wissen, was passiert ist! Gewiss hat Eleonora ihr Mädchen nicht freiwillig allein gelassen.«
»Pah! Wahrscheinlich ist sie auf Nimmerwiedersehen in Petersburg untergeschlüpft und lauert darauf, dass wir weiterziehen.«
Matthias spürte heiße Zornesröte in den Wangen. Aber was nützte es, mit einer unverschämten Halbwüchsigen zu streiten? »Pass auf, was du sagst, Helmine! Irgendwann fällt es auf dich zurück«, erwiderte er mühsam beherrscht und wandte sich ab, um nach Helmines Bruder Bernhard zu suchen.
»Ich hab’ gesehen, wie sie sich abends zur Ruhe gebettet haben«, sagte der Flickschuster kurz darauf. Matthias hatte ihn an einem der langen, wackeligen Tische gefunden, die zur Essensausgabe bereitstanden. Bernhards Rücken war gebeugt, seine Knie stießen gegen die Holzkante.
»Ich auch«, brachte Matthias hervor. »Das ist ja gerade
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