Weiße Nächte, weites Land
Michail. Er ist Arzt und … ebenfalls im Umgang mit Damen über jeden Zweifel erhaben.«
Christina strich über die Laken. »Dies ist das Gemach Eurer Schwester?«
Nikolaj nickte. »Ja, Mascha war so freundlich, es Euch zu überlassen, bis Ihr genesen seid. Ihr werdet sie später kennenlernen. Sie studiert Malerei an der Akademie der Künste. Aber nun wisst Ihr viel über mich … Und ich habe keine Ahnung, mit wem ich das außergewöhnliche Vergnügen habe.«
»Oh, verzeiht. Ich bin Christina … Weber, meine Schwester heißt Eleonora. Wir kommen aus dem Hessischen, sind vor wenigen Tagen in Kronstadt von Bord gegangen und nach Oranienbaum gebracht worden, und …«
Nikolaj richtete sich interessiert auf. »Ihr gehört also zu den Deutschen, die dem Ruf der Zarin gefolgt sind und an der Wolga ein neues Leben beginnen wollen?«
Christina nickte verzagt. »So ist es geplant.«
»Wie um alles in der Welt seid Ihr nach Petersburg gelangt? Man hört von strikten Reglements bei den Kolonisten …«
Sie schürzte die Lippen. »Die gibt es allerdings. Aber sind Reglements nicht am spannendsten, wenn man sich Mittel und Wege ersinnt, sie zu umgehen?«
Nikolaj blieb ernst. »Ihr habt Euch also unerlaubt von Eurem Treck entfernt. Aber warum? Was habt Ihr in der Stadt gesucht?«
Christina setzte sich auf. Sofort war Nikolaj an ihrer Seite, um ihr die Kissen im Rücken zu richten. Sittsam zog sie die Decke bis über die Brust.
Sie erzählte von ihrem Heimatdorf, der Not, dem Russlandfieber, das allerorten um sich griff und keinen unberührt ließ, dem langen Marsch nach Lübeck, dem Warten im Hafen, der beschwerlichen Überfahrt und der enttäuschenden Ankunft in Oranienbaum. Sie erzählte von ihrer Hoffnung, sich allen kaiserlichen Plänen zu widersetzen und Fürsprecher in ihren Verwandten zu finden, von denen sie nur wusste, dass sie aus dem Hessischen stammten und irgendwann einmal Weber geheißen hatten.
Aber sosehr sie noch am Abend zuvor darauf gehofft hatte, mehr über ihre Verwandten zu erfahren – in der Gesellschaft dieses schneidigen Offiziers erschien es ihr belanglos, ob sie sie jemals finden würde oder nicht.
Noch während sie sprach, setzte sich in ihrem Kopf der Gedanke fest, dass es den Himmel auf Erden bedeuten würde, wenn sie hier bleiben durfte.
»Euer Handeln war sehr leichtfertig«, urteilte Nikolaj. »Zwei Frauen allein in der nächtlichen Stadt und in diesem Viertel! Meine Freunde und ich haben Euch in der Nähe des Hafens gefunden. Wir wussten nicht, ob Ihr überhaupt noch lebt, verrenkt und blutverschmiert, wie Ihr auf dem Gassenpflaster lagt. Könnt Ihr Euch erinnern, wer Euch angegriffen hat?«
Als sie den Kopf schüttelte, verzog sie das Gesicht vor Schmerz. »Ich weiß noch, dass plötzlich ein Hund knurrend vor uns stand. Dann hörte ich Eleonoras Schrei neben mir, bevor ich selbst niedergeschlagen wurde und zu Boden ging.« Sie tastete an ihren Hinterkopf und fühlte den aufgeklebten Verband. Sie zuckte zusammen, als sie die verwundete Stelle berührte.
»Bei Eurer Kleidung haben wir keinen Geldbeutel gefunden. Hattet Ihr Geld dabei?«
»Allerdings. Das gesamte Wegegeld. Wir wussten nicht, was uns bei unseren Verwandten erwartet, und den Kutscher mussten wir auch bezahlen …«
»Tja, das hat sich erledigt. Dabei könnt Ihr noch von Glück sagen, dass es die Räuber nur auf die Münzen abgesehen hatten. Es hätte ärger ausgehen können …« Er hüstelte gegen den Handrücken.
Christina wurde es abwechselnd heiß und kalt. Plötzlicher Schwindel erfasste sie. Erschöpft sank sie wieder in die Kissen. »Wahrscheinlich habt ihr recht. Wir waren naiv …«
»So kann man es nennen, ja.«
Christina wandte ihm mit einem winzigen Lächeln ihr Gesicht zu. »Aber zum Glück sind wir uns begegnet.«
»Ja, einmal im Monat ziehe ich mit meinen Kameraden durch die Wirtshäuser. Ein harmloses Vergnügen von meiner Seite. Ich kenne meine Grenzen und würde niemals riskieren, Ihrer Majestät gegenüber unangenehm in Erscheinung zu treten.« Wieder hüstelte er.
Christina richtete sich auf. »Ihr seid mit der Zarin bekannt?«
Nikolaj schob die Lippen vor, beim Schmunzeln bildeten sich wieder die Fältchen um seine Augen. »Allerdings. Nicht weiter verwunderlich, wenn man zu ihrem persönlichen Regiment gehört, oder?«
»Oh …« Christina konnte ihre Bewunderung kaum verbergen. »Und wann …«, begann sie und wurde unterbrochen, weil in diesem Moment eine junge Frau das
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