Weiße Nebel der Begierde
gesteppten Unterröcken und einem Leinenhemdchen unter einem Kleid mit Reifrock, wie es im vorigen Jahrhundert Mode gewesen war. Aber nicht das kunstvolle Gewand erregte Eleanors Aufmerksamkeit. Etwas an dem entrückten Gesichtsausdruck der Puppe, der dem von Juliana sehr ähnelte, veranlasste Eleanor, sie in die Hand zu nehmen.
Juliana sprang auf, lief zu Eleanor und riss ihr die Puppe aus der Hand. Sie musterte Eleanor argwöhnisch aus schmalen Augen.
»Oh, ich wollte ihr keinen Schaden zufügen«, beteuerte Eleanor sanft. »Ich habe sie mir nur angesehen.«
Juliana schwieg, setzte sich wieder auf ihren Platz und schaute zwischen den Gitterstäben hindurch auf den Horizont. Sie drückte die Puppe an sich und wirkte wie ein verschrecktes Kaninchen, das steif und unbewegt dahockte, in der Hoffnung, in der Umgebung ausreichend getarnt zu sein.
Eleanor ging langsam auf Juliana zu und ließ sich neben ihr auf die Fensterbank nieder. Sie legte die Arme auf die angezogenen Knie und wartete.
»Es ist eine sehr schöne Puppe, Juliana.«
Die Kleine starrte weiterhin aus dem Fenster, ohne auch nur die geringste Reaktion zu zeigen. Die einzige Bewegung an ihr war das Heben und Senken ihres Brustkorbs beim Atmen.
»Weißt du«, beharrte Eleanor, »als ich ein kleines Mädchen war, hatte ich fast genauso eine Puppe. Sie hieß >Queen Anne<-Puppe, aber ich habe sie >Frances< genannt, nach meiner Mutter, weil sie so ähnlich aussah wie ...«
Eleanor vergaß ihre nächsten Worte, denn Juliana wandte sich ihr unvermittelt zu. Sie sagte zwar nichts, aber aus ihren Augen sprach eine grenzenlose Sehnsucht. Eleanor wurde plötzlich kalt, aber das hatte nichts mit dem ungemütlichen Wetter zu tun.
Offensichtlich war die Holzpuppe für Juliana eine Erinnerung an die Mutter, die sie verloren hatte, und vielleicht sogar ein Vermächtnis aus Lady Dunevins eigener Kindheit, das sie an ihre einzige Tochter weitergegeben hatte. Als Eleanor die Qual in den Augen des Kindes sah, musste sie für einen flüchtigen Augenblick an ihre eigene Mutter denken; Gedanken dieser Art hatte sie in den vergangenen Wochen, seit sie Skynegal verlassen hatte, hartnäckig verdrängt.
Sie vermisste sie schmerzlich, denn seit sie denken konnte war Frances, Lady Knighton, mehr als nur eine Mutter für ihre einzige Tochter - sie war ihre beste Freundin. Frances teilte alles mit Eleanor, erzählte ihr abends Geschichten, brachte ihr komplizierte Schritte für ein Dutzend Tänze bei, lachte und redete viel mit ihr. Selbst jetzt noch spürte Eleanor, wenn sie die Augen schloss, die vertraute, zärtliche Berührung der Hand ihrer Mutter, wenn sie ihr nach dem Bad die Haare bürstete - das hatte sie auch noch getan, als Eleanor längst erwachsen geworden war.
Sie erinnerte sich gern daran, wie sehr ihre Mutter Wildblumen liebte, an die stundenlangen Spaziergänge durch die Wiesen und an die kleinen Geschichten, die Frances über die Blumen erzählte, an die gemeinsamen Gespräche und die Unterhaltungen über die glanzvollen Bälle und Partys, die Eleanor besuchen würde, wenn sie endlich in die Gesellschaft eingeführt wurde.
Sie hatten diese erste Saison schon lange im Voraus geplant und jedes Detail bis zur Farbe der verschiedenen Tanzschuhe eingehend besprochen. Und Eleanor dachte mit Wehmut zurück, dass sie Frances an einem strahlenden Frühlingstag gefragt hatte, wie es wohl sein würde, wenn sie den ersten Kuss von dem Verehrer bekam, der sie eines Tages zu seiner Frau nehmen würde.
Es wird sich anfühlen, als würde die Erde still stehen und als ob alles um dich herum von schimmernden weißen Wolken eingehüllt wäre, hatte ihre Mutter gesagt. Sie machten wie jeden Tag in London einen Spaziergang durch den Hyde Park. Die Osterglocken und Krokusse standen in voller Blüte und Frances sah ihre Tochter mit einem liebevollen, wissenden Lächeln an.
Beim ersten Kuss von dem Mann, den du liebst, vergisst du sogar für einen Moment zu atmen. Stell dir vor, dass du mitten in einem Regebogen stehst, mein Liebes. Dein Herz bekommt Flügel und nichts wird für dich jemals wieder so sein, wie es vorher war.
Jetzt betrachtete Eleanor das unschuldige Gesicht dieses Kindes, das seine Mutter nie Wiedersehen würde, nie wieder mit ihr sprechen oder Geheimnisse teilen konnte, und plötzlich verspürte sie den Drang, Juliana in den Arm zu nehmen und sie über den großen Verlust ein wenig hinwegzutrösten.
In diesem Moment kam Fergus herein und zerstörte die
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