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Weiße Nebel der Begierde

Titel: Weiße Nebel der Begierde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaclyn Reding
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behauenen Steinen gemauerten Kamin. Eleanor schloss daraus, dass dies ein früheres Schlafgemach war, während die beiden kleinen Räume als Ankleidezimmer oder Dienstbotenquartier genutzt wurden. Trotz seiner Größe gab es im Schulraum nur ein Fenster - es war das einzige Fenster im ganzen Stockwerk.
    Eleanor stand unbemerkt auf der Schwelle zum Schulzimmer und betrachtete das Spiel des schwindenden Tageslichts, das durch dieses eine kleine Fenster auf das Profil des Kindes fiel. Sie waren allein, denn Fergus hatte sich, gleich nachdem er Eleanor in ihr Zimmer geführt hatte, wieder auf den Weg nach unten gemacht - er überließe es Eleanor, sich mit dem schweigenden Mädchen bekannt zu machen, das ab heute unter ihrer Obhut stand.
    Juliana MacFeagh war ein hübsches, zartes Kind. Das tiefschwarze Haar, das sie von ihrem Vater geerbt hatte, war noch feucht vom Regen und wellte sich leicht über den Schultern, das helle Band, das es ihr aus dem Gesicht hielt, hing schlaff über einem Ohr. Sie trug ein hellblaues Kleid mit Schärpe über weißen Pantalons, die unter den Röcken hervorspitzten. Ihr Mund war klein und leicht geschürzt und die dunklen Augen wirkten groß in dem feinen Gesicht. Sie sah aus wie ein ganz normales neunjähriges Mädchen, das sich für imaginäre Teepartys hübsch anzieht und sich kunstvolle Frisuren macht. Aber wenn man sie genauer betrachtete, merkte man, dass sie etwas an sich hatte, etwas, was tief in ihr war und sie irgendwie isolierte, unantastbar machte. Sie war wie die zarte Porzellanpuppe, die Eleanor einmal in einem Ladenfenster in der Londoner Bond Street gesehen hatte - hübsch anzusehen, aber so zerbrechlich, dass man sie nur zur Schau stellen, aber nie mit ihr spielen konnte.
    Eleanor betrat still den Raum, durchquerte ihn und stellte sich neben ihren Schützling. Juliana blieb auf der in die Mauer eingelassenen Bank unter dem Fenster sitzen und regte keinen Muskel. Wenn sie Eleanor bemerkt hatte, dann ließ sie sich nicht das Geringste anmerken.
    »Hallo, Juliana«, sagte Eleanor mit einem Lächeln. »Ich bin Miss Harte, deine neue Gouvernante.«
    Sie streckte die Hand aus, aber die Kleine ergriff sie nicht, sondern warf nur einen kurzen Blick auf Eleanor und deutete mit einem leichten Stirnrunzeln an, dass sie sehr wohl verstand, auch wenn sie selbst nicht sprechen konnte.
    Es verging eine Weile. Juliana schaute wieder aus dem Fenster und rückte ein kleines Stück von Eleanor ab. Die Regentropfen rannen über die Fensterscheibe, der Wind heulte unten im Hof. Die Minuten verstrichen, während Eleanor nach etwas suchte, was das eiserne Schweigen zwischen ihnen brechen könnte.
    »Wir haben ein bisschen Zeit für uns, bevor wir zum Abendessen müssen«, sagte sie. »Da es regnet, müssen wir wohl oder übel im Haus bleiben, aber ich dachte, wir könnten etwas finden, womit wir uns beschäftigen.«
    Keine Reaktion.
    »Liest du gern?«, fragte Eleanor.
    Wieder nichts. Eleanor schaute sich nach einem Buch, einem Spielzeug oder irgendetwas um, womit sie das Interesse des kleinen Mädchens wecken könnte.
    Der Raum war so öde und charakterlos wie ein Buch mit lauter unbeschriebenen Seiten. Bis auf eine vergilbte Landkarte von England, die aussah, als wäre sie vor zweihundert Jahren gezeichnet worden, waren die in einer grässlichen, undefinierbaren Farbe zwischen Grün und Beige gestrichenen Wände ganz kahl. Die schmucklosen Möbel hatten dieselbe Farbe und trugen zur freudlosen Atmosphäre bei. Eiserne Stäbe vor dem Fenster sperrten die Welt aus, und obwohl sie als Sicherheitsmaßnahme gedacht waren, verstärkten sie den Eindruck, dass dies eher ein Mauthäuschen war als eine Stätte, in der ein Kind lernen und spielen sollte.
    Der einzige Schmuck, den Eleanor mit Missfallen entdeckte, war eine dünne Birkenrute, die drohend neben der Tür an der Wand lehnte.
    Kein Wunder, dass Juliana am liebsten aus dem Fenster sah.
    In den Regalen fand Eleanor ein paar typische Kinderbücher: Aesops Fabeln und Grimms Märchen neben Wedderburns eher unzureichende Einführung in die Grammatik. Einige Spielsachen sahen aus, als hätte sie nie eine Kinderhand be-rührt, andere schienen seit Generationen in Gebrauch zu sein. Besonders fiel ihr eine Holzpuppe mit aufgemalten schwarzen Augen und lockigem flachsblonden Haaren auf.
    Es war eine Modepuppe, die Schneider in Frankreich benutzten, um den englischen Kundinnen ihre neuesten Kreationen en miniature zu zeigen. Die Puppe war angezogen mit

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