Weiße Nebel der Begierde
einschüchtern wollte, dann verfehlte er sein Ziel, denn obwohl er sich alle Mühe gab, sich mit Gefühllosigkeit zu tarnen, wurde sich Eleanor einer Sache gewahr. Lord Dunevin verbarg etwas hinter dieser kalten Fassade -vor wem?
Störte ihn Julianas Stummheit so sehr? War sie in seinen Augen deshalb mit einem Makel behaftet? Eleanor wusste, dass einige Menschen der feinen Gesellschaft so dachten. Die kleinste Verunstaltung, das leichteste Lispeln gaben Anlass zur Besorgnis, da Perfektion das höchste Ideal war. Diejenigen, die diesem Ideal entsprachen, prahlten damit, die weniger Begünstigten waren bestrebt, das, was sie von allen anderen unterschied, zu verbergen, weil sie die Achtung der Gesellschaft fürchteten.
»Mylord, wenn Juliana in die höhere Gesellschaft eingeführt werden soll, wird sie die feinen Tischmanieren lernen müssen. Wenn sie ihre
Mahlzeiten im entlegensten Winkel des Hauses einnimmt, werden Sie nie erfahren, ob sie die Gabel richtig hält oder ob sie imstande ist, ihre Suppe geräuschlos zu essen. In einer Gesellschaft, in der jede Bewegung sehr genau beobachtet wird, leidet der Ruf vieler Frauen nur wegen nicht ganz korrekter Tischmanieren. Juliana wird nur ein richtiges Verhalten lernen und sich an die Gesellschaft anderer gewöhnen können, wenn sie täglich übt.«
Es dauerte eine Weile, bis Gabriel begriff, dass er die neue Gouvernante sprachlos anstarrte. Diese Frau, die buchstäblich aus dem Nichts aufgetaucht war und jetzt mit flammenden grünen Augen vor ihm stand, hatte ihn gerade angegriffen, wie kaum ein Mann es wagen würde.
Nahm sie wirklich nicht zur Kenntnis, wer er war? Die meisten würden allein bei der Aussicht, vor ihn, den Teufel des Dunevin Castle, treten zu müssen, zurückschrecken. Er bedachte sie mit einem finsteren Blick, der schon einige hasenfüßige Hausmädchen zur Flucht aufs Festland veranlasst hatte, aber sie lächelte bloß und wartete auf seine Antwort. Er wollte nicht einlenken und Juliana erlauben, hier zu bleiben, aber gleichzeitig konnte er dem, was Miss Harte vorgebracht hatte, nicht gut widersprechen. Juliana musste lernen, wie man sich in Gesellschaft benahm, denn es könnte ein Tag kommen, an dem sie sich nicht mehr in die Abgeschiedenheit dieser Insel zurückziehen konnte.
War das nicht der Grund, warum er diese Gouvernante eingestellt hatte? Um Juliana auf die Welt jenseits dieser Insel vorzubereiten? Bestimmt würde er es verkraften, eine Mahlzeit in ein und demselben Raum mit seiner Tochter einzunehmen.
»Schön.« Mehr sagte er nicht dazu, dann widmete er der Suppe, die Fergus in diesem Augenblick in seinen tiefen Teller schöpfte, seine volle Aufmerksamkeit. Juliana rührte sich nicht vom Fleck und schaute erschrocken von Gabriel zu Miss Harte.
»Komm her, Juliana«, meinte die Gouvernante lächelnd und deutete auf den Stuhl zu Gabriels Rechten, wo schon ein Gedeck bereitstand. Dann nahm sie Juliana gegenüber Platz. Fergus, der immer auf dem Sprung war, brachte ein drittes Gedeck für sie.
Von dem Augenblick an, in dem die Suppe serviert war, herrschte absolute Stille, die weitaus ohrenbetäubender war als das Unwetter, das draußen tobte. Der Sturm war ganz plötzlich über die Förde gezogen, und Gabriel fragte sich flüchtig, ob das überraschende Gewitter irgendwie mit der Ankunft der neuen Gouvernante in Zusammenhang stehen könnte. Sie hatte sich eindeutig als unberechenbar und rätselhaft wie der stets wandelbare Himmel über den Hebriden erwiesen.
Wer ist diese Frau?, überlegte er und betrachtete sie verstohlen, als er sein Weinglas auffüllte. Ihre dichten Wimpern warfen in dem sanften Kerzenlicht dunkle Schatten auf ihre Wangen, als sie auf ihren Teller sah. Was macht sie hier? Warum versteckt sie sich auf dieser Insel? Oder, noch wichtiger, vor wem?
Er beobachtete, wie sie den Suppenlöffel hob, dafür sorgte, dass Juliana es ihr gleichtat, und lautlos die dampfende Suppe aß, eine Partan-Brühe, die so sämig wie wohlschmeckend und eine Spezialität der Dunevin-Köchin war. Er sah, wie ihre Zungenspitze über die Oberlippe fuhr, und ihm schien, als wäre es plötzlich wärmer in diesem Zimmer.
Gabriel wusste, dass der Name der Gouvernante genauso wenig Miss Nell Harte war wie seiner Napoleon Bonaparte, und er wusste auch, dass sie eine Lady von hohem Stand war - zweifellos naiv, das hatte sie bewiesen, indem sie ganz allein auf die Insel gekommen war, aber kultiviert und gebildet. Und da er genau so jemanden für
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