Weiße Nebel der Begierde
Geschicke derer, die von ihm abhängig waren, bestimmte, als wären sie Schachfiguren, mit denen er nach Belieben verfahren konnte.
An dem Tag, an dem Frances dem Duke als zukünftige Braut seines einzigen Sohnes vorgestellt wurde, hatte er mit seiner Ansicht über sie nicht hinter dem Berg gehalten.
»Sie können sich beglückwünschen, meine Liebe. Sie haben Ihre Familie mit diesem Coup in einen Stand erhoben, den sie ansonsten nicht im Traum erreicht hätte.«
Aber es hatte seinen Preis, in die Wycliffe-Sippe aufgenommen zu werden, einen Preis, der letzten Endes viel zu hoch war. Der Unmut und die Verbitterung konnten nur zu einer Katastrophe führen. Manchmal brauchte es eine Tragödie, um allen Beteiligten vor Augen zu führen, wo sie gefehlt hatten. Und Eleanor hatte diese Tragödie ausgelöst.
Nach Eleanors Verschwinden hatten Christian und der alte Duke eine erbitterte Auseinandersetzung gehabt. Lebenslanger Groll und Schmerz brach sich Bahn, und zum ersten Mal in seinem Leben stellte sich Christian gegen seinen Großvater, um sich nach all den Jahren, in denen er klein beigegeben und alles erduldet hatte, um Mutter und Schwester zu beschützen, endlich von einer zentnerschweren Last zu befreien. Bei diesem Streit warf der Duke seine undurchdringliche Rüstung ab, und der wahre Grund für seine Herzlosigkeit kam ans Licht - sein ganzes Leben lang hatte er unter Scham und Reue gelitten, weil er nicht um die Frau seines Herzens gekämpft hatte.
Als der Duke aus erste Hand erfuhr, welchen fürchterlichen Schaden er mit seinem Stolz angerichtet hatte, brach er zusammen und gab sich die ganze Schuld an Eleanors Flucht von zu Hause. Wundersamerweise taten sich die beiden Männer, Großvater und Erbe, zusammen und scheuten weder Kosten noch Mühen, um die Vermisste ausfindig zu machen. Der Duke hatte geschworen, dass er die Zeit, die ihm noch verblieb, darauf verwenden würde, all seine vergangenen Taten wieder gutzumachen. Aber jetzt hatten sie schon so lange kein Wort von Eleanor gehört, so dass Frances kaum noch Hoffnung hatte, sie jemals zu finden und sie jemals wieder in den Armen zu halten, wenn auch nur, um sie um Vergebung dafür zu bitten, dass sie ihr so viel Schmerz zugefügt hatte.
Die Sonne stand bereits über den Baumwipfeln an diesem Morgen im Hyde Park, und ein paar Karossen waren schon vorbeigefahren, ein Hinweis, dass es schon spät geworden war. Frances entschied sich, zum Knighton House zurückzukehren. Christian und Grace sollten am Nachmittag aus Skyngal eintreffen, und ihre Freunde, der Duke und die Duchess of Devonbrook wurden am Abend zum Dinner erwartet. Es gab noch sehr viel zu tun.
Frances stand auf, faltete das Plaid zusammen und warf die letzten Brotkrumen auf den Boden neben der Bank. Als sie sich auf den Weg zum Tor machte, entdeckte sie eine Gestalt, die ihr entgegenkam.
Es war eine Frau, aber sie war noch zu weit weg, als dass Frances sie erkennen konnte. Dennoch war etwas Vertrautes an ihrer Haltung, an ihrem Gang - es erinnerte sie an ...
Frances blieb abrupt stehen und beobachtete die Frau. Die Hoffnung flackerte mit jedem Schritt, den die Frau näher kam, heller auf.
O heiliger Christopherus im Himmel, könnte es wirklich ...?
Frances wusste nicht, ob sie träumte, hoffte aber mit jeder Faser ihres Seins, dass dies die Wirklichkeit war.
»Hallo, Mutter.«
Beim Klang dieser Stimme verlor Frances den Kampf mit den Tränen. Sie ließ das Plaid fällen und schluchzte leise, als ihr ihre geliebte Tochter in die Arme sank.
»O mein Liebling, meine geliebte Tochter«, sagte sie und streichelte Eleanors Arme. »Du hast mir so sehr gefehlt.«
»Und du mir auch.«
Frances wich einen Moment zurück, um Eleanors Gesicht zu betrachten - wie sehr hatte sie gefürchtet, es nie wiederzusehen! Eleanor hatte sich irgendwie verändert, sie sah älter, weiser aus. In ihren Augen leuchtete nicht mehr die Fröhlichkeit der Jugend. Frances schüttelte bekümmert den Kopf. »Eleanor, es tut mir so entsetzlich Leid, dass ich dir weh getan habe.«
»Ich weiß, Mutter.« Eleanor wischte eine Träne von der Wange ihrer Mutter. »Und mir tut es
Leid, dass ich weggelaufen bin, ohne jemandem zu sagen, wohin ich wollte. Ich musste einfach weg, um mir über alles klar zu werden.«
»Natürlich, Liebes.«
Sie sah Frances tief in die Augen. »Mutter, es gibt so vieles, worüber wir reden müssen. Mein Leben hat sich verändert und du sollst alles erfahren.«
Frances’ mütterliche Instinkte
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