Weisser Oleander
Dichter in der Luft zerriss. Gleichzeitig hasste sie sie aber auch, ebenso wie sie ihre geistlose Arbeit bei der Zeitschrift Cinema Scene hasste. Dort machte sie den Klebeumbruch und montierte Artikel, deren Verfasser fünfzig Cent pro Wort für das Auskotzen ihrer schamlosen Klischees, abgedroschenen Substantive und lustlosen Verben verdienten, während meine Mutter sich stundenlang mit der Frage quälen konnte, ob sie nun »ein« oder »der« schreiben sollte.
Beim Signieren ihrer Bücher hatte sie ihr übliches halbes Lächeln aufgesetzt, eher innerlich als äußerlich, so als mache sie sich im Stillen über die Leute lustig, wenn sie ihnen für ihr Kommen dankte. Ich wusste, dass sie auf einen ganz bestimmten Mann wartete; ich hatte ihn schon entdeckt: ein scheuer Blonder, der ein ärmelloses T-Shirt und eine Holzperlenkette im Ethnolook trug. Er hielt sich im Hintergrund und betrachtete sie hilflos, völlig von ihr gefangen. Nicht umsonst war ich zwölf Jahre lang Ingrids Tochter gewesen; inzwischen konnte ich diese Typen im Schlaf ausmachen.
Ein stämmiger Mann, der sein dunkles Haar zu einem lockigen Pferdeschwanz zurückgebunden hatte, drängte sich vor und schob ihr sein Buch hin, um es signieren zu lassen. »Barry Kolker. Mir gefällt deine Arbeit«, sagte er. Sie signierte sein Buch und gab es ihm zurück, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. »Was hast du nach der Lesung vor?«
»Ich bin verabredet«, erwiderte sie und griff nach dem nächsten Buch.
»Dann danach«, sagte er. Mir gefiel sein Selbstvertrauen, aber er war nicht ihr Typ. Er war untersetzt, dunkel und trug einen Anzug, der aussah, als sei er aus einer Sammlung der Heilsarmee.
Sie wollte natürlich den schüchternen Blonden, der erheblich jünger war als sie und ebenfalls dichterische Ambitionen hatte. Er war es auch, der uns schließlich nach Hause begleitete.
Ich lag auf meiner Matratze auf dem überdachten Balkon hinter den Fliegengittern und wartete darauf, dass er ging. Ich sah, wie das Blau des Abends sich in ein samtenes Indigo verwandelte, das wie eine unausgesprochene Hoffnung verweilte, während meine Mutter und der blonde Mann auf der anderen Seite der Fliegengittertür murmelten. Es duftete nach Aromaöl, eine ganz besondere Sorte, die sie in Little Tokyo gekauft hatte, ein teures Öl ohne irgendwelche Süße; es roch nach Holz und grünem Tee. Eine Hand voll Sterne erschien am Himmel, doch in L.A. konnte man keines der Sternbilder richtig sehen, deshalb verband ich sie zu neuen Konstellationen: die Spinne, die Welle, die Gitarre.
Als er weg war, traute ich mich wieder in das große Zimmer. Sie saß im Schneidersitz auf dem Bett, in ihren weißen Kimono gehüllt, und schrieb mit einem Füllfederhalter, den sie immer wieder in ein Tintenfass tauchte, in ein Notizheft. »Erlaube einem Mann niemals, über Nacht zu bleiben«, sagte sie zu mir. »Das Morgengrauen lässt die Magie der Nacht schal erscheinen.«
Die Magie der Nacht, das klang wunderbar. Eines Tages würde ich auch Liebhaber finden und hinterher ein Gedicht schreiben. Ich betrachtete den weißen Oleander, mit dem sie an diesem Morgen den Couchtisch dekoriert hatte: drei Blütenstände, die den Himmel, die Menschen und die Erde verkörpern sollten. Ich dachte an die Musik ihrer Stimmen in der Dunkelheit, an ihr leises Lachen, an den Geruch des Aromaöls. Ich berührte die Blumen. Himmel, Mensch . Ich hatte das Gefühl, kurz vor der Enthüllung eines wichtigen Geheimnisses zu stehen. Etwas hatte mich umgeben wie ein Mullverband, und ich begann ihn abzuwickeln.
Den ganzen Sommer lang ging ich mit ihr in die Redaktion. Sie plante nie weit genug voraus, um mich für eine Jugendfreizeit anzumelden, und von der Möglichkeit eines Sommerkurses erzählte ich ihr nichts. Die Schule selbst machte mir Spaß, doch es fiel mir schwer, mich als ein Mädchen zwischen vielen anderen einzufügen. Die Mädchen in meinem Alter schienen einer ganz anderen Spezies anzugehören; ihre Belange kamen mir so fremdartig vor wie die des Dogon-Stammes in Mali. Die siebte Klasse war besonders quälend gewesen, und ich erwartete sehnsüchtig den Moment, in dem ich wieder mit meiner Mutter zusammen sein konnte. Die Layout-Abteilung von Cinema Scene mit ihren Filzschreibern, einem Drehkarussell von vielfarbigen Buntstiften, mit Papierbögen in Tischgröße, Zurichtebogen, Kleberastern und Klebestreifen, mit ausrangierten Überschriften und Fotos, die ich aufkleben und zu Collagen verarbeiten
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