Weisser Oleander
sich nicht. Sie blieb mit geschlossenen Augen auf ihrem Sessel sitzen. Sie verließ gern als Letzte den Saal. Sie hasste Menschenaufläufe, und es widerstrebte ihr, den Leuten dabei zuzuhören, wie sie nach einer Vorstellung ihre Ansichten äußerten oder – noch schlimmer – sich darüber austauschten, ob und wie lange man wohl auf der Toilette warten müsse oder wo man im Anschluss essen solle. Es verdarb ihr die Stimmung. Sie befand sich immer noch in einer anderen Welt und wollte dort so lange wie möglich bleiben, während sich die parallelen Gedankenkanäle wie Korallen durch ihre Großhirnrinde bohrten.
»Es ist vorbei«, sagte Barry.
Sie hob die Hand und signalisierte ihm, still zu sein. Er blickte mich an, und ich zuckte mit den Schultern. Ich war daran gewöhnt. Wir warteten, bis auch das letzte Geräusch im Zuschauerraum verstummt war. Schließlich öffnete sie die Augen.
»Also, wollt ihr eine Kleinigkeit essen?«, fragte er.
»Ich esse nie«, sagte sie.
Ich hatte Hunger, doch wenn meine Mutter einmal eine Position bezogen hatte, war sie unerschütterlich. Wir gingen nach Hause, wo ich Thunfisch aus der Dose aß, während meine Mutter in Anlehnung an die Rhythmen des Gamelans ein Gedicht über Schattenspielfiguren und Schicksalsgötter schrieb.
2
In dem Sommer, als ich zwölf war, streifte ich gern durch die Anlage, in der die Kinozeitschrift ihre Büros hatte. Der Komplex aus den zwanziger Jahren, ein ehemaliges Einkaufszentrum, hieß Crossroads of the World; in der Mitte des Hofes stand ein Gebäude im Art-déco-Stil, das einem Ozeandampfer nachempfunden war und heute von einer Werbeagentur genutzt wurde. Ich saß auf einer Steinbank und stellte mir vor, dass Fred Astaire, bekleidet mit einer Schiffermütze und einem blauen Blazer, an der Messingreling des Dampfers lehnte.
Die Häuser, die den gepflasterten Hof umgaben, waren in den verschiedensten Fantasiestilen – von den Gebrüdern Grimm bis zu Don Quijote – erbaut worden und beherbergten heute Fotostudios, Casting-Agenturen und Satzstudios. Ich zeichnete eine lachende Carmen, die sich unter dem herabhängenden Korb mit roten Geranien in der sevillanischen Eingangstür der Model-Agentur rekelte, und eine sittsam bezopfte Gretel, die die germanischen Stufen des Fotostudios mit einem Reisigbesen kehrte.
Während ich zeichnete, beobachtete ich die hochgewachsenen schönen Mädchen, die durch die Türen ein und aus gingen und zwischen Casting-Agentur und Fotostudio hin- und herliefen, wo sie das schwer verdiente Geld aus Teilzeitjobs ausgaben, um ihre Karriere voranzutreiben. Alles Geldschneiderei, pflegte meine Mutter zu sagen, und ich hätte den Mädchen gern diese Erkenntnis weitergegeben, doch sie schienen bereits durch ihre Schönheit gegen alles gefeit zu sein. Was konnte solchen Mädchen schon zustoßen, langbeinig in hautengen Hosen und durchsichtigen Sommerkleidchen, mit klaren Augen und ebenmäßigen Gesichtern? Selbst die Vormittagshitze ließ ihre Makellosigkeit unberührt; sie schienen in einem anderen Klima zu leben.
Gegen elf tauchte meine Mutter im gefliesten Eingangsbereich von Cinema Scene auf, und ich klappte mein Heft zusammen, weil ich dachte, dass sie eine frühe Mittagspause machen wollte. Doch wir gingen nicht zum Auto. Stattdessen folgte ich ihr um die nächste Straßenecke, wo Barry Kolker neben einem alten goldenen Lincoln auf uns wartete. Er trug ein grelles, großkariertes Jackett.
Meine Mutter blickte ihn einmal kurz an und schloss die Augen. »Dieses Jackett ist ja grässlich! Ich kann gar nicht hinsehen! Hast du es einer Leiche geklaut?«
Barry grinste und hielt meiner Mutter und mir die Autotüren auf. »Wart ihr noch nie beim Pferderennen? Man muss sich schrill anziehen, das ist so üblich.«
»Du siehst aus wie ein Sofa in einem Altersheim«, sagte sie, während wir einstiegen. »Gott sei Dank wird mich wenigstens keiner meiner Bekannten mit dir sehen!«
Wir machten einen Ausflug mit Barry. Ich konnte es kaum fassen. Ich war davon überzeugt gewesen, dass wir ihn nach dem Gamelan-Konzert nie mehr wieder treffen würden. Und jetzt hielt er mir die hintere Tür des Lincoln auf. Ich war noch nie auf der Rennbahn gewesen. Es war nicht die Art Freizeitvergnügen, die meiner Mutter in den Sinn kam: draußen an der frischen Luft, Pferde, niemand, der ein Buch las oder über den Zusammenhang von Schönheit und Schicksal nachdachte.
»Normalerweise würden mich keine zehn Pferde dorthin bringen, wie es so
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