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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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hin. Erinnerte mich daran, auf welchem Ende der Planke ich stand und so weiter.
    »Das ist doch noch Jahre hin«, sagte ich.
    »Du kannst es nicht allein schaffen«, sagte sie. »Du brauchst eine Umgebung, einen Kontext. Leute haben in deinen Erfolg investiert. Schau mich bloß an, in Gottes Namen. Ich musste erst ins Gefängnis kommen, ehe man auf mich aufmerksam wurde.«
    Die Autos fuhren los, knirschten über den Kies. Camille kam aus dem Unterstand hervor und deutete auf ihre Armbanduhr. Die Zeit war um. Ich fühlte mich leer und ausgenutzt. Was immer ich mir davon versprochen hatte, die Wahrheit zu erfahren – es war nicht eingetreten. Es war meine letzte Hoffnung gewesen. Ich wollte, dass sie genauso litt wie ich. Ich wünschte es mir sehr.
    »Und was ist das für ein Gefühl zu wissen, dass mir inzwischen alles scheißegal ist?«, fragte ich. »Dass ich alles tun würde, um zu bekommen, was ich will? Dass ich sogar für dich lügen würde, ohne mit der Wimper zu zucken? Ich bin jetzt wie du, nicht wahr? Ich betrachte die Welt und frage mich: Was kann ich da für mich rausholen?«
    Sie schüttelte den Kopf, blickte auf ihre gebräunten bloßen Füße hinunter. »Wenn ich alles zurücknehmen könnte, würde ich es tun, Astrid.« Sie hob die Augen zu mir empor. »Das musst du mir glauben.« Ihre Augen glitzerten in der Sonne und hatten genau die Farbe des Pools, in dem wir in jenem Sommer geschwommen waren, als sie verhaftet wurde. Ich wollte wieder dort schwimmen, in ihnen untertauchen.
    »Dann sag mir, dass du nicht willst, dass ich aussage«, meinte ich. »Sag mir, dass du mich nicht so willst. Sag mir, dass du den Rest deines Lebens opfern würdest, um mich wieder so zu haben, wie ich einmal war.«
    Sie wandte ihren blauen Blick der Straße zu, jener Straße, der wunderschönen Straße, von der die Frauen im Gefängnis träumten. Die Straße, für die sie mich schon einmal verlassen hatte. Ihr Haar wie Rauch im Wind. Über uns bewegte sich das Laubwerk hin und her wie ein Kämpfer, der auf einen kleinen Sandsack eindrischt, in einer Luft, die nach brennendem Buschwerk und Milchvieh roch. Sie presste die Hände auf die Augen, ließ sie dann über das Gesicht zu ihrem Mund hinabrutschen. Ich beobachtete sie, während sie auf die Straße starrte. Sie wirkte verloren, verirrt, eingeschlossen in ihrer Sehnsucht, auf der Suche nach einem Ausgang, einer versteckten Tür.
    Und plötzlich fühlte ich Panik in mir aufsteigen. Ich hatte einen Fehler gemacht, so wie damals, wenn ich mit Ray Schach gespielt hatte und mir eine Sekunde zu spät aufgegangen war, dass ich den falschen Zug gemacht hatte. Ich hatte eine Frage gestellt, konnte jedoch nicht riskieren, die Antwort darauf zu erfahren. Es war genau die Sache, die ich gar nicht wissen wollte. Der Stein, der nie umgedreht werden durfte. Ich wusste, was darunter lag. Ich brauchte es nicht zu sehen, das hässliche, augenlose Albinowesen, das sich darunter verbarg.
    »Hör mal, vergiss es! Abmachung ist Abmachung. Lassen wir es dabei bewenden.«
    Der Wind ließ seine gefährliche Peitsche durch die Luft knallen; ich stellte mir vor, ich könne den Funkenregen sehen, die Asche riechen. Ich befürchtete schon, dass sie mich nicht gehört hatte. Sie verharrte so bewegungslos wie eine Daguerreotypie, die Arme vor ihrem Jeanskleid verschränkt. »Ich werde Susan sagen, dass sie dich in Ruhe lassen soll«, sagte sie leise.
    Ich wusste genau, dass ich sie gehört hatte, doch ich konnte es nicht glauben. Ich wartete auf ein Zeichen, dass ich mich nicht verhört hatte.
    Dann kam meine Mutter zu mir zurück, nahm mich in die Arme, legte ihre Wange an mein Haar. Obwohl ich wusste, dass es unmöglich war, konnte ich ihre Veilchen riechen. »Ich würde alles geben, wenn du wieder zurückgehen könntest, und sei es auch nur ein kleines Stück«, sagte sie mir ins Ohr.
    Ihre großen Hände streichelten sanft über mein Haar. Diese Offenbarung war alles, was ich je wirklich gewollt hatte. Die Möglichkeit von Fixsternen.

32

    In dem Jahr, als der Wiederaufnahmeprozess meiner Mutter stattfand, im Februar, war es bitterkalt. Ich lebte mit Paul Trout in Berlin, im Ostteil der Stadt, in einer Wohnung im vierten Stock, die wir von jemandem gemietet hatten, der dort selbst schon Untermieter war. Der Putz bröckelte von den Wänden, und die Wohnung hatte Kohleheizung, doch wir konnten sie uns die meiste Zeit über leisten. Seit Pauls gezeichnete Romane zu einer Art Kult-Comic unter den

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