Weisser Oleander
sie immer an mir herumgezerrt hatte. Assi, Saft! Saft! Ihre Dringlichkeit. Hinter dem Kopf meiner Mutter, auf der anderen Seite des Zauns, beobachteten die jungen Frauen aus der Zugangsabteilung eine von ihnen dabei, wie sie den asphaltierten Hof fegte; fegte und fegte, als sei es eine Buße. »So sind kleine Kinder nun mal. Was hast du denn gedacht? Dass ich dich unterhalten würde? Dass du und ich uns über Joseph Brodsky austauschen könnten?«
Sie setzte sich auf, schlug die Beine übereinander und legte die Hände auf die Knie. »Ich hatte gedacht, dass Klaus und ich bis ans Ende aller Tage glücklich zusammenleben würden. Adam und Eva in einer weinüberwucherten Hütte. Ich habe die Archetypen spazieren geführt. Ich war nicht ganz bei Sinnen.«
»Du warst in ihn verliebt.«
»Ja, ich war in ihn verliebt, schon gut!«, schrie sie mich an. »Ich war in ihn verliebt, und zu unserem Glück fehlte uns nur noch ein Baby und all der ganze Kram, und dann bekamen wir dich, und ich wachte eines Morgens auf und war mit einem schwachen, selbstsüchtigen Mann verheiratet und konnte ihn nicht mehr ausstehen. Und du, du wolltest immer nur, wolltest, wolltest. Mami, Mami, Mami, bis ich dachte, ich würde dich noch an die Wand schleudern.«
Mir war schlecht. Ich hatte keine Schwierigkeiten, ihr zu glauben, mir die Situation vorzustellen. Ich sah alles viel zu deutlich. Und ich konnte verstehen, wieso sie mir nie davon erzählt hatte, es freundlicherweise einfach unterlassen hatte.
»Also hast du mich da zurückgelassen.«
»Ich hatte es nicht wirklich geplant. Ich habe dich nur für den Nachmittag bei ihr abgegeben, um mit ein paar Freunden an den Strand zu gehen. Dann ergab eins das andere; sie hatten ein paar Freunde unten in Ensenada, und ich fuhr mit – und es war ein wundervolles Gefühl, Astrid. Endlich frei zu sein. Du kannst es dir gar nicht vorstellen. Allein ins Badezimmer zu gehen. Ein Nickerchen am Nachmittag zu halten. Den ganzen Tag lang mit einem Mann zu schlafen, wenn ich wollte; am Strand spazieren zu gehen und nicht die ganze Zeit denken zu müssen: Wo ist Astrid? Was macht Astrid? Was wird sie als Nächstes wieder anstellen? Und dich nicht die ganze Zeit an mir kleben zu haben, Mami, Mami, Mami, dich nicht wie eine Spinne an mir hängen zu haben …«
Sie schauderte. Sie erinnerte sich immer noch voller Widerwillen an meine Berührung. Mir wurde ganz schwindlig vor Hass. Das war meine Mutter. Die Frau, die mich großgezogen hatte. Wie hätte ich je eine Chance haben sollen?
»Wie lange warst du weg?« Meine Stimme klang mir schal und tot in den Ohren.
»Ein Jahr«, sagte sie ruhig. »Ein paar Monate mehr oder weniger.«
Und ich glaubte ihr. Alles in meinem Körper sagte mir, dass es stimmte. All diese Nächte, in denen ich darauf gewartet hatte, dass sie nach Hause kam, auf den Schlüssel in der Tür gelauscht hatte. Kein Wunder. Kein Wunder, dass sie mich von ihr wegzerren mussten, als ich in die Schule kam. Kein Wunder, dass ich immer Angst hatte, dass sie mich eines Nachts verlassen würde. Sie hatte es schon einmal getan.
»Aber du fragst das Falsche«, sagte sie. »Frag mich nicht, warum ich weggegangen bin. Frag mich lieber, warum ich zurückgekommen bin.«
Ein Pick-up mit einem großen Pferdeanhänger rumpelte über die Straße in Richtung Highway. Wir konnten die Pferde riechen, ihre glänzenden Hinterteile über der Ladeklappe sehen, und ich dachte an jenen Tag beim Pferderennen, Medeas Stolz.
»Du hättest dich sterilisieren lassen sollen.«
Plötzlich war sie auf den Beinen und presste mich an den Schultern gegen den Baumstamm. Ihre Augen waren eine vernebelte See. »Ich hätte dich dalassen können, aber das habe ich nicht. Verstehst du denn nicht? Ein einziges Mal habe ich das Richtige getan. Für dich.«
Ich sollte ihr jetzt verzeihen, aber es war zu spät. Ich würde meinen Spruch nicht aufsagen. »Schön für dich«, erwiderte ich trocken.
Sie hätte mir am liebsten eine Ohrfeige gegeben, doch das konnte sie nicht. Sie würden den Besuch sofort für beendet erklären. Ich hob den Kopf; ich wusste, dass die weißen Narben leuchteten.
Sie ließ meine Arme los. »Früher bist du nie so gewesen«, sagte sie. »Du bist so hart geworden. Susan hat es mir schon erzählt, aber ich dachte, es wäre bloß eine neue Masche. Du hast dich selbst verloren, deine Verträumtheit, deine zarte Art.«
Ich starrte sie an, ließ es nicht zu, dass sie meinem Blick auswich. Wir waren gleich
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