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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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groß, auf gleicher Augenhöhe, doch ich war breiter gebaut. In einem fairen Kampf hätte ich sie wahrscheinlich schlagen können. »Ich hätte erwartet, dass dir das gefällt. War es nicht das, was du an Claire gehasst hast, ihre Zartheit? Sei stark, hast du immer gesagt. Ich verachte Schwäche.«
    »Ich wollte dich stark, aber unversehrt«, sagte sie. »Nicht diese Verwüstung. Du bist wie ein Minenfeld. Du machst mir Angst.«
    Ich lächelte. Der Gedanke, dass ich ihr Angst machte, gefiel mir. Das Blatt hatte sich wirklich gewendet. »Du, die große Ingrid Magnussen, Göttin der Septemberfeuer, heilige Santa Ana, Gebieterin über Leben und Tod?«
    Sie streckte die Hand aus, als wolle sie mein Gesicht berühren, wie eine Blinde, doch sie konnte mich nicht anfassen. Ich würde sie verbrennen, falls sie mich berührte. Die Hand blieb in der Luft hängen, schwebte vor meinem Gesicht. Ich sah, dass sie Angst hatte. »Du warst das Einzige in meinem Leben, das rundherum gut war, Astrid. Seit ich zu dir zurückgekommen bin, waren wir nie mehr getrennt, bis jetzt.«
    »Bis zum Mord meinst du?«
    »Nein, das hier. Du, jetzt.« Die Handbewegung, der Versuch, mich zu berühren, verblasste wie die untergehende Sonne. »Weißt du, als ich zurückkam, hast du mich erkannt. Du hast da an der Tür gesessen, als ich reinkam. Du hast aufgeblickt und gelächelt und die Arme nach mir ausgestreckt, dass ich dich hochheben sollte. Als hättest du auf mich gewartet.«
    Am liebsten hätte ich diesen Augenblick mit der blauen Flamme eines Schneidbrenners durchtrennt. Ich wollte ihn zu Asche verbrennen und sie in den Wind streuen, auf dass die Stücke nie wieder zusammenfanden. »Ich habe immer auf dich gewartet, Mutter. Das ist die Konstante meines Lebens. Auf dich zu warten. Wirst du wiederkommen, oder wirst du vergessen, dass du mich vor einem Geschäft angebunden hast, mich im Bus sitzen gelassen hast?«
    Die Hand kam wieder hervor. Zaghaft, aber diesmal berührte sie leicht mein Haar. »Wartest du immer noch?«
    »Nein«, erwiderte ich und schob ihre Hand weg. »Ich habe damit aufgehört, als Claire mir gezeigt hat, wie es ist, wenn man geliebt wird.«
    Jetzt sah sie müde aus, man sah ihr jeden Tag ihrer neunundvierzig Jahre an. Sie hob ihre Schuhe auf. »Willst du sonst noch irgendetwas? Habe ich meinen Teil der Abmachung erfüllt?«
    »Bereust du je, was du getan hast?«
    Der Ausdruck in ihren Augen war so bitter wie ein Nachtschattengewächs.
    »Du willst von mir etwas über Reue erfahren? Lass mich dir ein paar Dinge über die Reue erzählen, mein Schätzchen. Es gibt kein Ende der Reue. Du kannst den Anfang der Kette nicht finden, die uns hierhin gebracht hat. Sollst du die gesamte Kette bereuen – und die Luft zwischen den Gliedern? Oder jedes der Glieder einzeln, als ließe sie sich auseinander nehmen? Bereust du den Anfang, der zu einem so schlechten Ende geführt hat, oder nur das Ende selbst? Ich habe über diese Frage mehr nachgedacht, als du dir auch nur im Entferntesten vorstellen kannst.«
    Ich hätte nie gedacht, dass ich den Tag erleben würde, an dem meine Mutter, Ingrid Magnussen, mir eingestehen würde, dass sie etwas bereute. Jetzt, wo sie vor mir stand, vor Reue zitternd, fiel mir nichts ein, was ich sagen konnte. Es war, als ob man plötzlich einen Fluss rückwärts fließen sah.
    Wir standen da und starrten auf die leere Straße jenseits des Zauns.
    »Was wirst du tun, wenn du hier rauskommst?«, fragte ich sie. »Wo wirst du hingehen?«
    Sie wischte sich mit dem Kragen ihres Kleides den Schweiß von der Stirn. Sekretärinnen, Büroangestellte und Gefängnisaufseher kamen aus dem Verwaltungsgebäude. Sie lehnten sich gegen den heißen Wind, hielten ihre Röcke fest, auf dem Weg in die Mittagspause, in irgendein nettes klimatisiertes Coco’s oder Denny’s. Als sie meine Mutter sahen, beugten sie sich dichter zusammen und tuschelten miteinander. Sie war bereits eine Berühmtheit, das konnte ich unschwer erkennen. Wir beobachteten, wie sie ihre Autos starteten. Ich wusste, dass sie sich jetzt vorstellte, selbst die Zündschlüssel in der Hand zu halten und Gas zu geben, die Tankanzeige auf Voll.
    Sie seufzte. »Wenn Susan endlich mit ihrem Verteidigungszug fertig ist, bin ich wahrscheinlich eine Werbe-Ikone wie Aunt Jemina oder das Pillsbury-Männchen. Man wird mir eine ganze Reihe von Dozentenstellen anbieten. Wo würdest du denn gerne hingehen, Astrid?« Sie schaute mich an, lächelte, hielt mir meine Mohrrübe

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