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Weißer Schatten

Titel: Weißer Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deon Meyer
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Bergen und Tälern, in Bäumen und Wäldern, wo ihre Vorfahren
     Tausende von Jahren schon gebrütet hatten, |76| aber jetzt hatten die Menschen diese Gebiete an sich gerissen. Es gab die Fehlwahrnehmung, sodass Geier sich an den Kleintieren
     und dem Geflügel der Bauern gütlich taten. Also wurden sie erschossen.
    »Darüber hinaus glauben die Eingeborenen, dass Geier magische Kräfte haben. Sie glauben, dass Geier ein übernatürlich gutes
     Augenlicht haben, mit dessen Hilfe sie nicht nur über große Entfernungen etwas zu fressen finden, sondern das so gut ist,
     dass sie sogar das Morgen sehen können. Mit anderen Worten: Sie können in die Zukunft sehen. Seit wir in Südafrika die staatliche
     Lotterie haben, verkaufen Medizinmänner – oder Sangomas, wie sie sich lieber nennen lassen – Köpfe von Geiern an gierige Spieler
     für ein kleines Vermögen, denn die Leute glauben, das wäre ihr Glücksbringer, um in die Zukunft zu sehen, ihr Talisman, der
     ihnen hilft, die richtigen Zahlen zu tippen.«
    Emma neben mir hörte mit höchster Konzentration zu.
    »Der Markt für Geier ist in den letzten Jahren explodiert. Raten Sie mal, was Sie mittlerweile für einen Geierkopf bezahlen
     müssen. Fünfhundert Rand? Eintausend? Ich sage es Ihnen, bis zu zehntausend Rand. Aber die Sangomas kaufen die toten Geier
     von Wilderern für vielleicht zweihundert oder dreihundert Rand das Stück. Und wie fangen die Wilderer die Geier? Sie vergiften
     sie. Sie legen einen Kadaver aus, der mit Gift gespickt ist, und sie töten einhundert oder zweihundert Vögel auf einmal, aber
     sie sind zu Fuß und können nur zehn oder zwanzig schleppen, also bleiben die anderen liegen und verwesen.«
    Das Publikum brachte murmelnd seine Unzufriedenheit zum Ausdruck, aber Donnie Branca war noch nicht fertig. Er begann die
     Statistiken der Verluste zu zitieren, jede Spezies ein angelernter Chorus aus Englisch, Afrikaans und Latein. Der wundervolle
     Lämmergeier (Lammergeier/
Gypaetus
Barbatus)
, der früher in den Bergen Lesothos nistete, war dort vollkommen ausgestorben. »Absolut ausgelöscht. Keiner mehr übrig, nicht
     ein einziger Vogel.« Auf der südafrikanischen Seite der Grenze gab es noch neun brütende Paare. »Neun, meine Damen und Herren.
     Ganze neun Paare.«
    |77| Plötzlich fiel mir ein, an wen Donnie Branca mich erinnerte. Es hatte einen Laienprediger namens Job Tieties im Gefängnis
     gegeben, einen Typen aus den Cape Flats, den sie wegen eines bewaffneten Raubüberfalles dran gekriegt hatten. Er predigte
     des Nachts, die Bibel in der Hand, für sich und eine Handvoll seiner Brüder. Seine Stimme hallte mit derselben Dringlichkeit
     durch die Zellen – mit evangelistischer Inbrunst.
    Der Kapgeier (Kransaasvoël/
Gyps
Coprotheres) ,
einst so zahlreich in Afrika, war in Swasiland vollkommen ausgelöscht, stand in Namibia auf der höchsten Gefahrenliste, und
     weltweit gab es nur noch zweitausend brütende Paare. »Zweitausend. Stellen Sie sich vor, es gäbe nur noch zweitausend
Menschen
auf der ganzen Welt. Versuchen Sie einmal, sich das vorzustellen. Vor hundert Jahren gab es noch hunderttausend Kapgeier in
     Südafrika. Dieser unglaubliche Vogel mit einer Spannweite von zweieinhalb Metern kann den ganzen Tag auf thermischen Winden
     über das
veld
gleiten und mühelos siebenhundertfünfzig Kilometer zurücklegen – das ist die Entfernung zwischen Bloemfontein und Kapstadt.
     Nur noch zweitausend brütende Paare sind übrig. Eine Tragödie, ein Desaster. Warum? Warum sollten wir uns sorgen, dass sie
     verschwinden, diese ekelhaften, hässlichen Vögel?«
    Weil die Natur ausgesprochen fein abgestimmt war, sagte er. Sie war Gottes Uhr, und jedes kleine Zahnrad, jede kleine Feder
     war von entscheidender Wichtigkeit, um die ökologische Zeit einzuhalten. »Wenn ich das erklären dürfte: Jeder Geier hat seinen
     Platz, seine Funktion, seine Rolle. Verschiedene Geier fressen verschiedene Teile der Kadaver – Körper und Schnabel eines
     jeden ist angepasst an seine spezielle Aufgabe. Der Kappengeier (Monnikaasvoël/
Necrosyrtes
Monachus)
ist der erste. Mit seinem scharfen, schmalen Schnabel kann er das Fell der toten Tiere aufreißen. Er hat es eilig, um ein
     paar Fleischfetzen abzubekommen, bevor die größeren, dominanten Aasfresser auftauchen. Aber er war unverzichtbar; ohne ihn
     kämen die anderen nicht an das Fleisch heran.«
    Die Kapgeier waren der Abschaum der Aasfresser. Sie |78| segelten ewig hoch über dem

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