Weißer Schatten
Schwingen, weit gespreizt, um das Gleichgewicht zu halten, ließen sie winzig wirken, und er war so schwer,
dass sie ihren ausgestreckten Arm mit dem anderen stützen musste.
»Halten Sie jetzt das Fleisch so fest, wie Sie können«, sagte Donnie Branca, aber es half nichts. Der Vogelschnabel packte
das Fleisch und zupfte es mühelos zwischen ihren Fingern heraus.
Ich stand hinter den anderen Zuschauern in der Tür des Käfigs. Ich sah das kindliche Erstaunen auf Emmas Gesicht.
»
Jislaaik
«, sagte sie, und der Geier flog von ihrer Hand, streifte mit seinen langen Federn noch ihr kurzes Haar. Die Menge applaudierte.
Donnie Branca stand am Tor, hinter der Sammelbüchse, um sich bei den Besuchern zu bedanken und von ihnen zu verabschieden.
Emma achtete darauf, dass wir ganz am Ende standen. Branca lächelte sie an und streckte ihr die Hand hin. »Das haben Sie gut
gemacht bei der Fütterung«, sagte er.
»Mister Branca …« Emma schüttelte ihm die Hand.
»Nennen Sie mich Donnie.« Er mochte sie.
»Mein Name ist Emma le Roux. Ich möchte mit Ihnen über jemanden mit Namen Jacobus de Villiers sprechen.«
Branca brauchte einen Moment für den Themenwechsel. Seine weißen Zähne verschwanden. »Cobie?«
|81| »Ja«, sagte Emma.
Branca schaute sie an, als sähe er sie zum ersten Mal, sein Interesse war nun deutlich geringer. »Sind Sie von der Presse?«
»Ich bin Consultant in Kapstadt. Jacobus ist mein Bruder.« Sie öffnete den Reißverschluss ihrer Handtasche.
»Ihr Bruder?«
Emma zog das Foto heraus und reichte es Branca. Er nahm es und betrachtete es aufmerksam.
»Aber Cobie … Ich dachte …« Er reichte ihr das Bild zurück. »Ich glaube, Sie sollten mit Frank reden.«
»Frank?«
»Frank Wolhuter. Er ist der Manager. Aber ich weiß nicht, ob er Zeit hat.«
In Frank Wolhuters Büro gab es keine Klimaanlage. Es roch intensiv nach Tieren, Schweiß und Pfeifentabak. Er stand auf und
streckte Emma seine Hand hin. Mit blauen Augen musterte er sie. Er war sehnig wie
biltong
, mit einem Bärtchen und dichtem grauem Haar, das längst hätte geschnitten werden müssen. Er stellte sich mit dem fröhlichen
Lächeln eines Mannes vor, der gute Nachrichten erwartete.
»Emma le Roux, und das ist Mr. Lemmer.«
»Bitte, setzten Sie sich. Was kann ich für Sie tun?« Er war eindeutig über fünfzig; sein Gesicht war voller Charakterfalten,
die von einem Leben in Sonne und Wind zeugten.
Wir setzten uns.
»Ich vermute, Cobie de Villiers ist mein Bruder«, sagte Emma.
Sein Lächeln gefror. Er starrte Emma an und fragte schließlich: »Sie vermuten?«
»Ich habe ihn zuletzt vor zwanzig Jahren gesehen. Ich dachte, er sei tot.«
»Miss de Villiers …«
»Le Roux.«
»Natürlich. Mrs. le Roux …«
»Miss.«
|82| »Le Roux ist Ihr Mädchenname?«
»Le Roux war auch Jacobus’ Nachname, Mr. Wolhuter. Es ist eine lange Geschichte …«
Frank Wolhuter sank langsam in seinem abgenutzten braunen Ledersessel zurück. »Jacobus le Roux.« Er schien den Namen schmecken
zu wollen. »Sie müssen entschuldigen, aber unter den gegebenen Umständen bin ich ein wenig skeptisch.«
Emma nickte und öffnete ihre Handtasche. Sie zog das Foto hervor, legte es auf den Schreibtisch und schob es Wolhuter hin.
Er steckte eine Hand in seine Hemdtasche und zog eine Lesebrille heraus, die er aufsetzte. Er nahm das Foto und betrachtete
es lange.
Draußen brüllte ein Löwe in seinem Käfig, kurz und gereizt. Vögel krakeelten. Drinnen war es nicht so unerträglich heiß, wie
ich erwartet hatte, vielleicht weil die Vorhänge halb zugezogen waren. Emma beobachtete Wolhuter geduldig.
Er legte das Foto hin, nahm die Brille ab und legte sie daneben auf den Tisch. Zog eine Schublade auf und nahm eine Pfeife
mit einem langen, geraden Stiel heraus. Dann eine Schachtel Streichhölzer. Er klemmte sich das Mundstück der Pfeife zwischen
die Zähne, entzündete ein Streichholz und hielt es an den Tabak. Er saugte mit routinierter Lässigkeit den Tabak in Brand
und blies den Rauch zur Decke.
»Ah, nein«, sagte er und sah Emma an. »Das ist nicht Cobie.«
»Mr. Wolhuter …«
»Nennen Sie mich Frank.«
»Kannten sie Jacobus, als er zwanzig war?« Ich war überrascht von ihrem Tonfall, so vernünftig und freundlich.
»Nein.« Er sog an seiner Pfeife.
»Können Sie mit absoluter Sicherheit sagen, dass dies nicht sein Foto ist?«
Wolhuter schaute sie nur über die Pfeife hinweg an.
»Das ist alles,
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