Weißer Schatten
– Weißen, Schwarzen, Braunen. Wollten sie die Vergangenheit hinter einem Wall aus Besitztümern verstecken?
Oder war es die Gegenwart, die sie verbergen wollten?
Die größte Überraschung war die neue Aggression, diese Haltung von ›Ich nehme mir, was ich will‹, von ›Steh mir nicht im Weg
herum‹. Ich bemerkte sie zuerst auf den Straßen. Die mangelnde Rücksicht. Das Fehlen der Freundlichkeit, der Großzügigkeit,
des Gemeinsinns. Eine Gesetzlosigkeit, als gäbe es keine Regeln mehr. Oder eher, als würden die Regeln |206| nicht für alle gelten. Sie fuhren bei Rot. Sie fuhren langsam auf der rechten Spur – oder schnell auf der linken. Handy am
Ohr auf dem Freeway, und wie sie einen anstarrten, als wollten sie sagen: ›Sag ja nichts.‹ Als wäre dieses Land ein Ort geworden,
an dem man tat, was man wollte. Und an sich riss, was man konnte, bevor alles zur Hölle fuhr. Oder bevor jemand anders es
bekam.
Und all das Stöhnen und Jammern. Alle waren unglücklich. Quer durch alle Hautfarben. Unzufrieden mit der Regierung, miteinander,
mit sich selbst. Alle zeigten mit dem Finger, machten Vorwürfe, beklagten sich.
Ich konnte es nicht verstehen. Die Russen, die Rumänen und Bosnier holten ihre Kinder nach der abendlichen Karatestunde ab
und sagten: ›Dies ist ein wundervolles Land. Es ist das Land von Milch und Honig.‹ Die Südafrikaner aber beklagten sich. Sie
fuhren tolle Autos, wohnten in großen Häusern und Wohnungen mit Meerblick, sie aßen in Restaurants und kauften sich Flachbildfernseher
und Designerklamotten, aber keiner war zufrieden, und es war immer die Schuld der anderen.
Die Weißen beschwerten sich über die Förderung von Minderheiten und die Korruption, aber sie vergaßen dabei, dass sie fünfzig
oder sechzig Jahre genau davon profitiert hatten. Die Schwarzen gaben der Apartheid die Schuld an allem. Dabei war es schon
sechs Jahre her, dass sie abgeschafft worden war.
Am Abend ging ich einsam durch den Flur in meinem Wohnblock. Ich folgte dem Pizzajungen, der seine Schachteln alleinstehenden,
fetten Frauen brachte, die mit ängstlichem Blick die Tür öffneten und allein aßen, während sie im Fernsehen nach Freunden
suchten. Oder im Internet. Am Morgen lud mich manchmal eine Frau auf einen Kaffee ein, und dann saßen wir da, und sie erzählte
mir, wie traurig ihre Ehe gewesen war. Manchmal war ich selbst verloren genug, um ihr Bedürfnis zu stillen. Doch dann kamen
sie nicht mehr. Da habe ich Lemmers Gebot der einsamen Mütter formuliert.
Ich wusste, irgendetwas würde passieren. Es war mir nicht |207| wirklich klar, es war nur so ein Gefühl. Eine Stadt saugt einen Stück für Stück auf, verändert einen, drückt und poliert einen,
bis man so ist wie die anderen: einsam, aggressiv und selbstsüchtig. Außerdem ist man sich auf einer bestimmten Ebene dessen
bewusst, wer man ist, und der Dinge, die in einem schwelen. Der Dinge, die man tun könnte, der Triebe, die durch die Arbeit
als Bodyguard für die Regierung kanalisiert und unterdrückt worden waren. Man denkt nicht daran oder redet darüber, man ist
sich nur der Spannung bewusst, der zunehmenden Unsicherheit.
Du musst denken, ich wollte mich herausreden, Emma. Du musst glauben, dass ich versuche, Entschuldigungen zu finden. Ich habe
getan, was ich getan habe, dem kann ich nicht entgehen. Ich saß vor meinem Anwalt, einem kräftigen Mann namens Gustav Kemp,
und habe versucht, ihm zu erklären, warum es nicht meine Schuld war. Er hat gesagt: ›
Kak
, Mann. Du spielst die Karten, die das Leben dir gibt, und erträgst deine Strafe wie ein Mann.‹ Er hat mir einen Tag gegeben,
um darüber nachzudenken, und wenn ich immer noch glaubte, ich sei unschuldig, werde er mir einen anderen Anwalt besorgen.
Er ist mein Anwalt geblieben.
Was geschehen ist, musste früher oder später geschehen. Im Gefängnis habe ich viel über diesen Tag nachgedacht, dass ich es
hätte kommen sehen müssen, alle Anzeichen waren da – in mir und im Blick der anderen Leute, wenn sie einen auf dem Bürgersteig
anrempelten oder einem aus dem Auto den Finger zeigten.
Im Rückblick erkennt man immer alles ganz genau. Wenn man mittendrin steckt, bekommt man es nicht mit – wie ein Frosch, der
aus dem Topf hüpft, wenn das Wasser heiß ist, aber bis zuletzt drin bleibt, wenn es anfangs kalt ist und langsam erwärmt wird.
An diesem Abend …
Ich musste nach Bellville zu einer Karate-Prüfung. Ich hatte
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