Weisser Schrecken
Augenblicke später krachte er frontal in das herabhängende Geäst einer hohen Fichte. Andreas fühlte, wie er angehoben wurde und durch die Luft wirbelte. Einer der Skier löste sich mit einem Ruck von den Stiefeln, und er stürzte voran in die Dunkelheit. Der Aufschlag wurde von Schnee gedämpft, dennoch überschlug sich sein Körper mehrfach, bis er endlich von einer mächtigen Wurzel gestoppt wurde, wo er keuchend liegenblieb. Andreas stöhnte und kaute auf Schnee. Er spuckte die kalte Masse neben sich zu Boden und spürte nach, ob er sich bei dem Sturz verletzt hatte. Sein Körper schmerzte zwar, aber zumindest schien er sich nichts gebrochen zu haben. Eines seiner Bretter hing noch immer an seinem Stiefel, das andere rutschte in diesem Moment zwischen den Bäumen über ihm auf ihn zu. So ein Mist! Stöhnend erhob er sich und fischte nach dem verlorenen Ski. Wo war er überhaupt?
Er hatte längst die Orientierung verloren. Mühevoll sah er sich um und entdeckte im schalen Mondlicht, dass er am Rande einer kleinen Lichtung aufgeschlagen war. Die Waldluft roch an dieser Stelle eigentümlich nach … Holunder!
Seltsam. Es war doch Winter? Andreas lauschte erneut nach Motorgeräuschen, doch alles, was er hören konnte, war das leise Säuseln des Windes, der sich zwischen den schneebeckten Ästen und Tannenzweigen rings um ihn herum brach. Die Bäume hier waren gute sechs bis sieben Meter hoch.
Hoffentlich hatte Robert auf seinem Rückweg mehr Glück als er. Andreas klopfte sich fröstelnd den Schnee von der Kleidung und bemerkte erstmals, dass die Lichtung nicht leer war. Unweit von ihm entfernt, auf der gegenüberliegenden Seite der Lichtung, erhoben sich drei dunkle Schatten mit vage menschlichen Umrissen. Andreas erschrak derart über die Entdeckung, dass er die Bergflanke in seinem Rücken panisch wieder hochkraxeln wollte, als ihm auffiel, dass die drei Schatten völlig regungslos waren. Bäume? Felsen? Monolithe? Mit klammen Fingern durchwühlte er seine Jacke und fand die Taschenlampe dort, wo er sie kurz vor ihrem Kampf unter der Klosterruine verstaut hatte. Abermals lauschte er in den Wald. Erst als er sich davon überzeugt hatte, dass er hier wirklich allein war, knipste er die Lampe an. Der Lichtkegel war recht trübe. Der Lampe war deutlich anzumerken, wie oft sie in den letzten beiden Nächten in Gebrauch gewesen war. Andreas richtete den Schein auf die drei Objekte, die vor ihm aus der Schneedecke ragten, und gab einen überraschten Laut von sich. Es handelte sich bei ihnen um mehr als menschengroße Statuen aus dunklem Kalkstein, die leicht schräg aus dem Boden ragten. Die mittlere von ihnen überragte die beiden anderen Monumente sogar noch einmal um einen halben Schritt. Allesamt schienen sie auf ein beträchtliches Alter zurückzublicken, denn das Gestein war verwittert und von Wind und Wetter derart abgeschliffen worden, dass man ihre einstige Form nur noch unter Mühen erkennen konnte. Doch die Konturen waren eindeutig menschlich. Andreas trat näher an die Statuen heran und sah, dass es sich bei ihnen um Frauengestalten mit spitzen Ohren handelte. Oder waren das Hörner? Einzig die stilisierten Kleider waren bei allen drei Standbildern einheitlich. Die Züge auf den steinernen Gesichtern jedoch ließen leichte Unterschiede erahnen. Die Statuen blickten sowohl milde als auch streng auf den Betrachter herab. Die beiden kleineren Statuen trugen jeweils eine Kornähre sowie eine Mondscheibe in Händen, die mittlere hingegen hielt etwas vor die Brust gepresst, das Ähnlichkeit mit einer Spindel besaß. Einer Eingebung folgend, umrundete Andreas die Kolosse und atmete scharf ein. Jede der drei Statuen besaß zwei Antlitze, ähnlich wie der zweigesichtige Janus aus der römischen Mythologie. Nur dass die Köpfe im Rücken der Steingebilde schrecklichen Fratzen mit langen Reißzähnen ähnelten. Die Standbilder hielten auf dieser Seite Kinder in den Händen, deren Augen und Münder entsetzt aufgerissen waren. Andreas schluckte. Was für ein Ort war das hier? Dass er ihn nicht kannte, konnte nur daran liegen, dass er tief im Wald verborgen lag. Super, wie sollte er dann von hier aus den Weg zurück nach Perchtal finden?
Er ließ den Lichtschein ein weiteres Mal über die Lichtung wandern, doch der viele Schnee verdeckte alles, was ihm über die Statuen hinaus Aufschluss über die Lichtung hätte geben können. Und doch beschlich ihn der Eindruck, als ob die drei Standbilder auf eine heidnische
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