Weisser Schrecken
Brunnenschacht, als abermals ein Schuss aufpeitschte, der schräg neben seinen Füßen einen Ziegel zu Steinstaub verwandelte. Verzweifelt zog er seine vor der Öffnung baumelnden Beine an den Körper und hangelte sich nun ebenso wie Robert zur Brunnenöffnung empor. Ihn trieb die nackte Panik an. Unter ihm hallten kratzende Laute von den Brunnenwänden. Auch der Fremde zwängte sich jetzt durch die Öffnung. Andreas spähte angestrengt nach unten, doch er konnte noch immer nicht erkennen, um wen es sich bei ihrem Verfolger handelte. Robert erreichte in diesem Moment die Brunnenöffnung und wälzte sich keuchend nach draußen. Andy war jetzt mit ihrem Verfolger allein. Die glatten Sohlen seiner Skistiefel glitten immer wieder von den Sprossen ab, und die Strickleiter pendelte trotz der Verankerungen hin und her. Über ihm warf Robert den Hammer aus dem Rucksack in die Tiefe. Er prallte weiter unten gegen die Schachtwand, und Andreas vernahm einen leisen Fluch. Schon packte ihn sein Freund an den Handgelenken und zerrte ihn ins Freie. Beide stürzten sie in den Schnee.
Dicke Flocken regneten nasskalt vom Himmel. In der Zeit, die sie unter der Erde verbracht hatten, hatte es so heftig geschneit, dass ihre Spuren an der Oberfläche fast gänzlich verdeckt worden waren. Andreas wagte es nicht, sich auszumalen, was passiert wäre, wenn ihr Verfolger früher auf sie aufmerksam geworden wäre. So schnell wie möglich kam er wieder auf die Beine und zog Robert mit sich hoch. Seine Armmuskeln schmerzten vor Anstrengung, doch sie durften sich keine Schonung gönnen.
»Los, rüber zu die Skieren!«, keuchte er durch den Stoff der Wollmaske.
»Aber sieh doch!« Robert deutete an einem der Mauerstümpfe vorbei zum nahen Waldrand. Dort, zwischen den Bäumen, zeichneten sich die Konturen eines Fahrzeugs ab. Ohne Zweifel gehörte es dem Kerl, der sie verfolgte. Zu gern hätte Andreas das Auto näher inspiziert, und sei es auch nur, um sich das Kennzeichen zu merken. Doch im Moment war ihre Sicherheit wichtiger, denn die Klettergeräusche im Brunnenschacht klangen gefährlich nahe. »Nein, weg von hier«, entschied er. »Vergiss nicht, dass der Typ eine Pistole hat.« Gemeinsam rannten sie an den verschneiten Mauerfragmenten und Steinblöcken des alten Klosters vorbei, hinüber zum mit Tannen bewaldeten Abhang, unter deren breiten Zweigen ihre Aufstiegsspuren noch immer zu sehen waren. Mehr rutschend als kletternd stürzten sie die Anhöhe hinunter zum Waldweg, wo ihre Skier im Schnee steckten. Hastig schnallten sie sich die Bretter an, als über ihnen der Lichtstrahl einer Taschenlampe die Nacht zerschnitt. Abermals bellte ein Schuss auf, und Robert krümmte sich schmerzerfüllt. Seine Jacke war auf Höhe des Oberarms aufgerissen, und Andreas konnte im Mondlicht sehen, wie sich der Stoff mit Blut tränkte. Sein Freund stieß sich von einem nahen Baumstamm ab, und so folgte ihm Andreas hastig. Sie schlidderten auf Skiern den verschneiten Forstweg entlang, bis endlich so viel Bäume zwischen ihnen und ihrem Gegner standen, dass sie sich einstweilen sicher vor weiteren Kugeln fühlen konnten.
»Ist es schlimm!«, rief Andreas besorgt.
Robert stöhnte herzergreifend und hielt sich den Arm. »Mann, was für ’ne kack Frage! Was denkst du denn?«, blaffte er ihn an. »Auch wenn das bloß ein Streifschuss war, du hast keine Ahnung, wie höllisch weh das tut.«
»Ich verspreche dir, ich verbinde die Wunde gleich«, keuchte Andreas besorgt. »Aber erst müssen wir hier weg. Los!« Er fuhr voran, bis sie die Weggabelung zum Hauptpfad erreicht hatten. Die vielen Bäume um sie herum ragten finster zum Nachthimmel auf, und der fallende Schnee hatte inzwischen auch die letzten Spuren von Konrad und seiner Bande unter sich begraben. Obwohl es jetzt vorwiegend bergab ging, waren es von hier aus selbst mit Skiern sicher noch gute dreißig Minuten bis nach Perchtal. Mindestens. Hinter ihnen im Wald röhrte ein Motor auf, und grelles Licht flutete das Unterholz. »Scheiße, der Kerl gibt nicht auf!«, klagte Andreas. Gehetzt spähte er den Weg voraus. »Aber mit den Skiern sind wir hoffentlich schneller als er.« Robert band sich mühsam seinen Schal um die Armwunde, und Andreas half ihm dabei.
»Ich kann so nicht fahren«, ächzte sein Kumpel. »Nicht bei diesen Schmerzen.«
»Meinst du denn, dass du es allein zurück schaffst?« Andy spähte alarmiert zu den schneebedeckten Bäumen in ihrem Rücken, zwischen deren Stämmen sich hin und
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