Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Weisser Schrecken

Weisser Schrecken

Titel: Weisser Schrecken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Finn
Vom Netzwerk:
Weise heilig waren. Auf jeden Fall schienen diese Steinkolosse älter zu sein als die Ruine des Klosters weiter oben im Wald. Wer mochte früher hier im Perchtal gelebt haben? Andreas grübelte und musste dabei wieder an die spärlichen Erkenntnisse der letzten beiden Tage zurückdenken. Hieß es nicht in dem Buch, aus dem ihm Robert vorgelesen hatte, dass sie hier auf keltische Traditionen zurückblickten? Hatten die Kelten einst diese Statuen aufgestellt? In diesem Fall mussten die drei Standbilder gute 2000 Jahre oder älter sein. Doch hatte dieser Fund überhaupt etwas mit dem zu tun, was sie bisher erlebt hatten? Andreas presste die Lippen aufeinander, denn etwas in ihm schrie ihm ein deutliches ›Ja‹ zu.
    Egal, jetzt musste er erst einmal wieder nach Perchtal zurück. Nur noch wenige Stunden, und die Sonne würde bereits wieder aufgehen. Ob der Unbekannte noch immer nach ihm suchte? Was, zum Teufel, hatte der Kerl überhaupt in den schrecklichen Katakomben zu suchen gehabt? Ob das Strobel gewesen war? War dem Mann bewusst, dass sich auch Konrad, Lugge, Wastl und die Vogelscheuche in der Ruine herumgetrieben hatten? Andreas fragte sich mittlerweile, ob die vier tatsächlich mit dem unheimlichen Orkan in Verbindung standen, der gegen Mitternacht über Perchtal hereingebrochen war. Zumindest mussten sie doch etwas davon mitbekommen haben. Er seufzte. Je länger er nachdachte, desto unentwirrbarer wurde das Knäuel aus Fragen und Mutmaßungen. Schließlich kramte er das gespenstische Foto aus dem Bootsschuppen hervor und beleuchtete es. Der Anblick ihrer Alter Egos ließ ihn abermals schaudern. Diese alte Fotografie barg ganz ohne Zweifel das größte Rätsel von allen. Denn dieses Rätsel waren sie selbst. Er wischte einige Schneeflocken von dem Foto und steckte es wieder weg. Bei dem Gedanken, mutterseelenallein im tiefen Fort zu stehen, wurde ihm plötzlich mulmig zumute. Nicht nur für heute hatte er von Geistern und anderen übernatürlichen Begegnungen gestrichen die Nase voll. Besser, er ließ es nicht weiter darauf ankommen.
    Andreas leuchtete den Waldrand ab, doch die Bäume rings um ihn herum wiesen ihm keinen Weg. Noch immer lag dieser Holundergeruch in der Luft. Er schnupperte, folgte dem Duft und wurde so auf zwei Bäume mit kahlen Ästen aufmerksam, zwischen denen sich ein Wildwechsel abzeichnete. Ohne den eigentümlichen Geruch hätte er ihn nicht bemerkt, auch wenn er Holunder nirgendwo entdecken konnte. Wie auch, mitten im Winter. Immerhin, der Trampelpfad im Schnee war besser als gar nichts. Er nahm die Skier auf und folgte der Spur. Etwas weiter hinten, durch die Äste und Zweige des Unterholzes hindurch, konnte er einen schmalen Streifen Licht erkennen. Wie Mondlicht, das auf einen von Schnee bedeckten Pfad fiel. Der unbekannte Weg führte linker Hand ins Tal. Richtung Ortschaft. Hoffnungsvoll kämpfte sich Andreas an verschatteten Baumstämmen und tief hängenden Zweigen vorbei, als er entgeistert stehen blieb.
    Einer der Bäume, gelegen auf einem kleinen Hügel unweit des Waldweges, war vollständig entastet. Die Äste und Zweige lagen wie von einer titanischen Macht zersplittert rund um den kahlen Stamm herum und bildeten hohe Haufen. Doch das war nicht alles. Denn dieser Stamm hob sich von den anderen Bäumen der Umgebung durch seine Färbung ab. Er glänzte im Mondlicht rot wie Blut. Meine Güte, das war Blut!
    Andreas sah auf, und seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. Dort oben, in gut fünf Metern Höhe, hing ein Mensch. Ein Erwachsener. Und er war über und über von Schnee, Frost und langen Eiszapfen bedeckt. Der erstarrte Körper mit den herabhängenden Extremitäten erweckte den Eindruck, von hoch oben, vom Himmel, gestürzt zu sein. Der spitz zulaufende Baumstamm hatte sich einmal quer durch seine Leibesmitte gebohrt und ragte gleich einer überdimensionierten Lanze gute drei Schritt aus dem Rücken des so grausam Gepfählten. Andreas glaubte die herausgerissenen Eingeweide im schalen Licht sehen zu können. Er wankte angeekelt zurück, bis er die Zweige einer Tanne im Rücken spürte. Die Gestalt da oben war ohne Zweifel von jener Macht getötet worden, die auch sie bedrängt hatte. Aufgespießt, so wie ein Neuntöter Insekten auf Dornen spießte. Hatte der Orkan den Mann bis an diesen Ort gewirbelt? Erst allmählich wurde Andreas bewusst, dass er die verzerrten Züge des Unglücklichen kannte. Die entsetzt geweiteten Augen; der Mund, der noch immer zu einem stummen Schrei

Weitere Kostenlose Bücher