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Weisser Schrecken

Weisser Schrecken

Titel: Weisser Schrecken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Finn
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geöffnet war. Gott, das konnte doch unmöglich sein!?
    Andreas packte seinen verbliebenen Skistock, hetzte den Pfad entlang und jagte auf den Skiern zurück in Richtung Tal, als gäbe es auch für ihn keinen Morgen mehr.

Knecht Ruprecht
    Niklas erwachte durch lautes Glockengeläut. Japsend schlug er die Augen auf, und all die schrecklichen Bilder von grinsenden Eisfratzen, heulenden Hundsgestalten und klirrenden Sturmböen, die sich Greifarmen gleich vom Himmel schraubten, wichen und zogen sich zurück in den Nebel jener Traumgespinste, die ihm schon die ganze Nacht über den Schlaf geraubt hatten. Das Laken unter seinem Kopf war nass von Schweiß. Noch immer lag er vollständig bekleidet und mit angezogenen Beinen in seinem Bett, die Finger krampfhaft in die Decke gekrallt. Es dauerte eine Weile, bis er in die Wirklichkeit zurückfand. Wie oft er in den zurückliegenden Stunden aus Albträumen hochgeschreckt war, wusste er nicht mehr. Doch jetzt war es endlich Tag.
    Ebenso jäh, wie die unheimlichen Traumbilder wichen, übermannten ihn die Erinnerungen an die vergangene Nacht. Der unheimliche Vortrag seines Vaters, der seltsame Sturm, die Geistergestalten in der Gasse, der tollwütige Hund und auch das verdammte Kissen seiner Mutter. Es war gerade so, als verfolge es ihn. Und er erinnerte sich daran, wie sich Andy und Elke geküsst hatten. Er wusste nicht, was von alledem schrecklicher war. Das Einzige, woran er sich nicht erinnerte, war, wie er zurück nach Hause gekommen war. Offenkundig war nur, dass er sich nicht einmal mehr ausgezogen hatte. Er lag in seinem Zimmer. Er schwitzte. Aber er war in Sicherheit. Und das war im Augenblick alles, was zählte.
    Endlich rang sich Niklas dazu durch, die Decke abzustreifen und sich aufzurichten. Das Bett knarrte unter seinem stattlichen Gewicht. Wie betäubt starrte er auf seine Armbanduhr: Die Zeiger standen auf 10.38 Uhr am Morgen, und noch immer bimmelten draußen die Glocken. Das war für diese Uhrzeit ungewöhnlich. Offenbar schien es den Räumdiensten nicht gelungen zu sein, die Straße ins Tal freizuräumen, sodass auch heute die Schule ausfiel. Andernfalls hätten ihn seine Eltern längst wach gemacht. Der Gedanke an die Schule weckte in ihm ein sehnsüchtiges Gefühl. Schule bedeutete Normalität. Doch die zurückliegenden Tage hatten alles verändert. Nichts war mehr normal. Vielleicht würde es das auch nie mehr werden.
    Lahm zog er den Reißverschluss seines Anoraks herunter und schälte sich mühsam aus seiner Kleidung. Pullover, T-Shirt, Hose, alles war klitschnass und stank nach Schweiß. Er fror, und seine Zunge war wie ausgedörrt. Er hatte schrecklichen Durst. Außerdem knurrte ihm der Magen.
    Niklas warf die feuchten Kleidungsstücke zitternd vor seinem Bücherregal auf den Boden und kramte aus dem Kleiderschrank neue Sachen hervor, in die er sich zwängte. Er hatte sich gerade die Brille aufgesetzt, als er an das Zimmerfenster dachte. Hoffentlich hatte er es geschlossen, nachdem er wieder zurückgekehrt war. Er marschierte zum Vorhang und zog ihn beiseite. Das Fenster war verriegelt. Auch wenn am Griff noch immer das Schuhband baumelte, mit der er es gestern von Außen zugezogen hatte. Die Scheiben hingegen waren beschlagen. Niklas wischte den grauen Film beiseite und konnte so einen Blick auf die tief verschneite Gasse vor dem Haus werfen. Zwei Erwachsene hasteten erregt diskutierend am Fenster vorbei in Richtung Ortsmitte, und endlich verstummte das Bimmeln der Glocken.
    Seltsam, auf der Straße gegenüber, an der Glastür der Bäckerei seines Vaters, hing das ›Geschlossen‹-Schild. Sehr ungewöhnlich. Niklas ging zur Zimmertür, vor der er kurz verharrte. Vorsichtig betätigte er die Klinke, doch zu seiner Erleichterung ließ sich die Tür wieder aufsperren. Sogleich stieg ihm der herrliche Duft von Tannenzweigen, Naschwerk, Schokolade und Marzipan in die Nase.
    Richtig, heute war ja Nikolaus! Sofort hellte sich seine Miene auf. Vor seiner Tür stand ein hoher Gummistiefel, der bis zum Rand mit Pralinen, Schokoladentäfelchen, Mandarinen und Marzipanbroten gefüllt war. Inmitten all des Naschwerks steckte bis zum Bauchnabel ein lecker aussehender Stutenkerl mit ausgestreckten Ärmchen. Seine Rosinenaugen hoben sich schwarz vom braunen Teigmantel ab, und der aus Mandelsplittern geformte Mund lächelte ihm einladend zu. Und das, obwohl Niklas die aufgereihten Mandelsplitter unwillkürlich an die Zähne eines aufgerissenen Haifischmauls erinnerten.

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