Weisser Schrecken
doch erzählt, dass wir gestern die Geister befragt haben.«
»Ja, und dass sie euch angeblich mit blöden Kinderliedern geantwortet haben.«
»Niklas, das waren keine einfachen Kinderlieder. Das waren Botschaften. Und hinter all diesen Botschaften steckt zweifelsohne ein verborgener Sinn.« Andreas atmete tief ein. »Als wir sie gefragt haben, welche Aufgabe uns zugedacht ist, da antworteten sie mit dem Lied Süßer die Glocken nie klingen. Und die schreckliche Reibeisenstimme, die kurz darauf folgte, stimmte dann ein Kling, Glöckchen, klinge-linge-ling an.« Andreas deutete rüber zum nahen Kirchenturm, der sich schlank und dunkel im Schneetreiben abzeichnete. »Bis eben wusste ich nicht, was das bedeuten sollte. Aber jetzt bin ich mir verdammt sicher, dass damit diese Kirchenglocke gemeint ist.«
»Und was willst du mit ihr machen?« Niklas klang wenig begeistert. »Sie läuten?«
»Keine Ahnung. Sehen wir uns das Mistding an.«
»Mensch, wie konntet ihr nur so verrückt sein.« Doktor Bayer zog Robert die Tetanus-Spritze aus dem Arm und klebte ein Pflaster auf die Einstichstelle. »Mit einer Sense spielt man doch nicht rum!«
»Ja, weiß ich.« Robert rutschte auf dem Stuhl vor und prüfte den Verband, den der Tierarzt ebenfalls erneuert hatte. Die Schusswunde schmerzte. Hinzu gesellte sich ein Jucken, das von Stunde zu Stunde schlimmer wurde. »Wir wollten das Teil einfach nur mal hin und her schwingen«, flunkerte er. »Dass das Sensenblatt derart scharf war, damit konnte ja keiner rechnen.«
»›Damit konnte ja keiner rechnen‹«, wiederholte der Tierarzt lakonisch und schüttelte den Kopf, sodass sein Schnauzbart wippte. »Wenn ich das nur höre.« Robert fragte sich, wie oft sich Doktor Bayer wohl dazu gezwungen sah, in seiner Praxis Menschen zu verarzten. Das komplett weiß gehaltene Behandlungszimmer unterschied sich nur wenig von einer üblichen Arztpraxis, abgesehen vielleicht davon, dass vor dem Fenster ein leerer Vogelkäfig stand und es im Raum penetrant nach nassem Hund stank. »Ich will nur nicht hoffen, dass ihr eine von diesen Szenen nachspielen wolltet, wie sie in diesen geschmacklosen Horrorvideos zu sehen sind?«, murrte der Arzt. Er warf die Kanüle der Spritze in einen speziell dafür vorgesehenen Abfalleimer und suchte die Schränke nach Medikamenten ab. »Auf jeden Fall solltest du die Wunde von deinem Hausarzt unten in Berchtesgaden überprüfen lassen, sobald die Straße wieder frei ist. Bei der Gelegenheit kannst du auch gleich mal nachfragen, wann du das letzte Mal gegen Tetanus geimpft wurdest. Das sollte bei deinem Alter zwar noch nicht allzu lange her sein. Aber sicher ist sicher.«
»Ja, mache ich.« Robert zog sich wieder an und überlegte verzweifelt, ob er den Tierarzt ins Vertrauen ziehen konnte. »Sag mal, zu deinem Vater hast du keinen Kontakt mehr, oder?«, wollte dieser plötzlich wissen.
Robert sah argwöhnisch auf. »Nein. Wir kommen auch ohne ihn klar.«
»Ja, sicher.« Doktor Bayer gab es auf, seinen Medikamentenschrank zu durchwühlen. »Ich frage wegen deiner Mutter. Robert, ich hoffe, dir ist klar, dass sie dringend ärztliche Behandlung benötigt. Der Zustand, in dem die Arbeiter sie gestern hier abgeliefert haben, war mehr als nur besorgniserregend. Das war eine Alkoholvergiftung, die sich gewaschen hatte. Keine Ahnung, wie man in so kurzer Zeit so viel Schnaps in sich reinschütten kann. Ich weiß ja nicht, was genau mit ihr los ist, aber ich befürchte fast, beim nächsten Mal könnte sie sich noch etwas anderes antun. Diese Praxis ist auch keine Ausnüchterungsstation. Ich kann sie nicht wieder über Nacht hier behalten, wenn so etwas erneut passiert. Ihr braucht Hilfe, und zwar beide.«
Robert nickte lahm und stand auf. Das Ganze war so verdammt peinlich. »Aber sie war wieder nüchtern, als sie heute morgen die Praxis verließ?«
»Ja, weitestgehend.« Doktor Bayer seufzte. »Am besten, du kommst noch einmal her, sobald Perchtal nicht mehr von der Außenwelt abgeschnitten ist, in Ordnung? Ich gebe dir dann ein paar Adressen, an die du dich wenden kannst. Und du solltest auch mal beim Jugendamt vorbeisehen. Die werden dir am ehesten helfen können.«
»Ja, mache ich.« Robert schlug in die Hand ein, die ihm der Tierarzt hinhielt, und seine Schulter schmerzte leicht. »Weiß man eigentlich schon, wer die Tote im See war, die wir vorgestern gefunden haben?«, fragte er, um das Thema zu wechseln.
Der Arzt räusperte sich. »Ja, weiß man. Aber der
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