Weisser Schrecken
rot. »Da hingen die Sachen hier ja noch.«
»Bitte, dann müssen Sie uns auch davon berichten«, versuchte es Andreas mit treuem Hundeblick. »Wie stehen wir denn sonst da? Unsere Lehrer denken doch noch, wir hätten uns keine Mühe gegeben.«
»Richtig«, ergänzte Niklas. »Und dann bekommt Konrad, dieser Bücherdieb, allein eine gute Note. Das können Sie doch unmöglich wollen?«
»Ist ja gut, Buben.« Frau Neubauer seufzte. »Dann kommt’s mal mit.« Sie führte die beiden um die Raumecke herum in den Nachbarsaal, wo Malereien sowie Holz- und Schnitzarbeiten aus dem Ort ausgestellt waren. Darunter Bildnisse der Jungfrau Maria mit Kind und Kunstwerke um den heiligen Nikolaus, aber auch eher profane Arbeiten wie röhrende Hirsche, Gamsböcke und Jägersleute mit ihren Hunden. Frau Neuleitner führte sie zu einem kleinen Tresen, dorthin, wo auch die Kaffeemaschine stand, die sie vorhin gehört hatten. »Eigentlich müsste ich von euch ja 50 Pfennig verlangen. Schutzgebühr. Aber das lasse ich mal.« Sie fischte hinter dem Tresen einen kleinen Prospekt hervor und klappte ihn auf. »In diesem Hefterl sind ein paar Fotos von unserem Museum drinnen. Zu Werbezwecken. Und da haben sie auch ein Bild von dieser Hexenverbrennung.« Sie tippte auf das Schwarzweißfoto eines altes Holzstichs, auf dem eine wehklagende Gestalt zu sehen war, die gefesselt auf einem Scheiterhaufen stand und von stilisierten Flammen umlodert wurde. Unter dem Bild befand sich eine kaum zu entziffernde lateinische Inschrift.
»Wann war das?«, fragte Andreas interessiert. So weit er erkennen konnte, war auf dem alten Stich nicht einmal andeutungsweise etwas abgebildet, das auf die jetzigen Geschehnisse verwies.
»Das war anno 1675«, erklärte die Neuleitner, und sie konnten am Tonfall hören, wie stolz sie darauf war, mehr als Niklas zu wissen. »Bei der Hexe da handelte es sich um eine ledige Köhlerin, die im Jahr davor den Teufel beschworen haben soll. Könnt ihr euch das vorstellen? Die Inschrift besagt – und jetzt wird es grauselig –, dass sie dabei ertappt wurde, wie sie Kinderfleisch hat fressen tun, um so strahlend schön wie der Morgenstern zu werden.« Andreas und Niklas sahen sich alarmiert an. »Morgenstern, versteht ihr?« Frau Neuleitner zog verschwörerisch ihr rechtes Augenlid nach unten. »Das ist eine Metarre für Luzifer, den Höllenfürsten.«
»Metapher heißt das«, korrigierte sie Niklas altklug.
»Wenn du meinst.« Sie räusperte sich. »Auf jeden Fall ist das wohl auch der Ursprung für die alte Sage von der schönen Köhlerin, wie sie sie früher hier noch erzählt haben. Kennt ihr die?«
»Nein.« Andreas schüttelte den Kopf. »Dann passt’s auf, Buben! Ich hab sie von meiner seligen Großmutter gelernt. Sie handelt von einem alten Holzköhlerweibl, und die war so grauslig anzuschaun wie der Teufel persönlich und hat deshalb nie nicht keinen Mann nicht abbekommen. In der Sage ist es so, dass sie den Höllenfürsten anrief, wie es Hexen eben so zu tun pflegen. Und der verlieh ihr überirdische Schönheit. Als Gegenleistung aber hat sie den Abt eines nahen Klosters verführen müssen, auf dass sie Einlass bekäme in das alte Gemäuer. Dieses hatten die Mönche nämlich auf einem alten Hexenplatz erbaut, was dem Teufel gar nicht hat schmecken wollen. Vor allem war der Teufel an dem Wunder wirkenden Krummstab des Abts interessiert, den angeblich einst ein Engerl aus einem Holunderzweig geschnitten und den Mönchen übergeben hat.«
»Aus einem Holunderzweig?«, rief Andreas aus. »Sie sind sich da sicher?«
»Ja freilich! So heißt es jedenfalls in der Sage«, antwortete die Matrone säuerlich. Offenbar schätzte sie es gar nicht, mitten in der Erzählung unterbrochen zu werden. »Doch die Hexenbuhle wurde erwischt. Als man sie auf den Scheiterhaufen stellte und die Klosterglocke dreimal läutete, da verfluchte sie den Abt und alle anderen im Ort. Der Teufel fuhr daraufhin mit klirrenden Ketten aus der Hölle empor, um die Hexe zu befreien. Doch der Abt stellte sich dem Höllenfürsten mit seinem Krummstab entgegen und rief den Schutz des Herrgottes an, auf dass alle getauften Seelen im Ort von ihm verschont blieben. Doch das war ein Fehler. Denn nun stürzte sich der Teufel auf die ungetauften Kinder im Ort und entriss ihnen ihre Seelen. Der Abt wurde daraufhin vor Gram und Kummer wahnsinnig, sodass er sein eigenes Kloster anzünden hat tun und sich selbst in die Flammen stürzen. Die verfluchte Köhlerin
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