Weisser Schrecken
Orkan muss ihn kurz daraufgepackt und in den Himmel geschleudert haben. Ich erinnere mich sogar daran, dass ich während des Sturms einen echt fiesen Schrei gehört habe.« Andreas verzog das Gesicht. Niklas sollte froh sein, dass er den aufgespießten Leichnam des Pfarrers nicht gesehen hatte. »Wir können ihm jetzt eh nicht mehr helfen. Außerdem bezweifle ich, ob er so viel Mitgefühl überhaupt verdient.« Er schloss die Haustür, und auch Niklas sah sich im Flur um. »Hoffentlich hat uns keiner bemerkt.«
»Dafür zu sorgen, das war dein Job. Und jetzt lass uns nachsehen, ob wir hier irgendetwas finden.« Die beiden verteilten sich und warfen einen Blick auf die angrenzenden Räumlichkeiten. Wohnzimmer, Schlafzimmer, Gästezimmer, alles war überaus spartanisch eingerichtet. Andreas wollte gerade die Tür am Ende des Hausflurs öffnen, die der Lage nach zu urteilen in die Kirche führte, als ihn Niklas aufgeregt zu sich heranwinkte. Er stand im Eingang zu einem Raum, der direkt neben der Küche lag.
»Was ist?« Andreas eilte zu ihm und sah nun, warum ihn Niklas herbeordert hatte. Sein Freund hatte Strobels Arbeitszimmer gefunden. Das Zimmer sah aus, als sei dort eine Granate eingeschlagen. Unter dem Fenster erhob sich ein wuchtiger Schreibtisch, der wie leergefegt war. Die Regale waren ausgeräumt, dafür türmten sich am Boden Aktenordner zu unordentlichen Haufen. Überall lagen aufgeklappte Bücher und Papiere herum, selbst die Schubladen des Schreibtisches hatte jemand am Boden ausgekippt. Zwischen den Papieren und Büchern lagen Schreibutensilien wie Stifte, Klebezettel, Radiergummis und vieles andere mehr.
»Scheiße, uns ist offenbar jemand zuvorgekommen«, fluchte Andreas.
Niklas schnaubte. »Der Typ, der euch gestern im Wald verfolgt hat? Strobel selbst wird sein Zimmer sicher nicht in diesem Zustand zurückgelassen haben.«
Sie betraten den Raum und Andreas hob einen Ordner an, in dem sich eine Sammlung abgetippter Predigten befand. Enttäuscht stellte er den Order zurück in eines der Regale. Dann las er ein schwarzledernes Notizbuch vom Boden auf, in dem sich Stift, Schreibblock und Telefonverzeichnis befanden. Die obersten Zettel des Blocks waren abgerissen, doch das Telefonverzeichnis war randvoll mit krakelig geschriebenen Namen und Nummern. »Pass auf«, schlug er Niklas vor. »Du durchsuchst das Zimmer und guckst, ob sich hier vielleicht noch etwas Interessantes findet. Ich mache mich ab in die Kirche und halte Ausschau nach der Treppe rauf zu diesem Kirchenturm.«
»Ich soll alleine hier bleiben und den ganzen Müll durchwühlen?«, raunzte ihn Niklas an. »Bin ich jetzt wieder der Idiot, der für die Drecksarbeit gut ist?«
»Hey, was ist denn los? Du kannst gern mitkommen.« Andreas deutete mit dem ledernen Notizbuch auf Niklas’ Bauch. »Aber ich hoffe, dir ist klar, dass der Kirchturm gute dreißig Meter hoch ist.«
Niklas sah ihn missmutig an. »Na gut, ich sehe, was sich machen lässt.« Lustlos wandte er sich dem durchwühlten Zimmer zu. »Aber beeil dich.«
Andreas ging zurück zu der Tür in Richtung Kirche und blätterte das Verzeichnis mit den Telefonnummern durch. Dort waren zahlreiche Namen aus Perchtal aufgelistet. Auch die Nummer des Sägewerks fand er. Doch keine einzige davon war verdächtig. Andererseits wusste er ja nicht einmal, wonach er suchen sollte. Als er vor der Tür zur Kirche stand, steckte er das Notizbuch in die Hosentasche – und hielt inne. Der Türrahmen neben dem Schloss war beschädigt. Ganz so, als habe jemand das Schloss mit Gewalt aufgebrochen. Misstrauisch zog er sie auf und spähte in einen weiß gekalkten Gang, von dem vier weitere Türen abzweigten. Ohne Zweifel gehörte das Gangstück bereits zum alten Kirchengebäude. Andreas schlich weiter und öffnete die Türen. Hinter der ersten verbarg sich ein Raum mit Putzmitteln, die zweite führte direkt in den Chorraum der Kirche. Von hier aus hatte man einen guten Blick auf den Altar sowie eine Empore mit dem Fresko des heiligen Nikolaus, der diesen zeigte, wie er mit dem Krummstab in der Hand einen Meeressturm besänftigte. Obwohl, was war das? Bei genauerem Hinsehen konnte man den Eindruck gewinnen, dass die Sturmwolken die Konturen unheimlicher Fratzen besaßen, wobei die angedeuteten Regenschleier die Zähne bildeten. Zufall? Andreas rieb sich das Kinn. Ganz bestimmt nicht. Wenn man die Kirche genauer absuchte, mochten sich hier womöglich noch weitere versteckte Andeutungen finden lassen.
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